"Das Buch eignet sich nicht dazu, in den Bücherschrank gestellt zu werden.
Dort macht es nicht viel her. Aber im Kopf des Lesers wird es Veränderungen
bewirken - und darauf kommt es mir an." So gibt der Verfasser des
vorliegenden Buches gleich im Vorwort zu bedenken. Und in der Tat: Der Leser tut
gut daran, dieser Maxime zu folgen, denn was er hier zu lesen bekommt tritt mit
dem absoluten und zu Recht betonten Anspruch auf, im praktischen Leben umgesetzt
und bedacht zu werden. Wissenschaft - auch diejenige vom Gehirn, die
Neurobiologie - kann man nicht ernsthaft betreiben, ohne Konsequenzen für die
Gesellschaft zu ziehen. Damit nimmt der Autor gleichsam dezidiert Abstand von
einer formalen Logik des Denkens, die völlig indifferent ist gegenüber
praktischen Wahrheitsfragen, und fordert ein sich selbst begründendes oder
wenigstens nach Begründung und zugleich praktischer Realisierung suchendes
Denken.
Nach dem Erfolgsbuch "Nervensachen", welches auch noch zu besprechen
sein wird, stellt der Hirnforscher Manfred Spitzer, der Leiter der
Universitätsklinik Ulm für Psychiatrie und des Transferzentrums für
Neurowissenschaften und Lernen ist, neue Geschichten vom Gehirn vor. Sie
verknüpfen vortreffliche Unterhaltung mit beeindruckenden Fakten über unser
wichtigstes Organ. Warum merken sich Achtjährige Pokemon-Karten leichter als
Tierbilder? Wie schwört unser Hirn Rache, und wie bildet es Vertrauen aus? Und
was hat Weihnachten mit der Hirnforschung zu tun? Das Buch ist zugleich ein
Produkt der erfolgreichen Zusammenarbeit von Geistes- und Naturwissenschaften -
beispielsweise im Kapitel über Medien, in welchem die Auswirkung des
ungehemmten TV-Konsums sowohl neurologisch dargeboten wird, als auch eine
Sozialkritik latent mitschwingt.
Rückblende! Zwischen 1950 und 1975 stieg das Pro-Kopf-Volkseinkommen real auf
das Vierfache an, während das Pro-Kopf-Arbeitsvolumen um ein Viertel abnahm. In
den 1990er Jahren machten sich mehr als die Hälfte der Deutschen große Sorgen
um die Arbeitslosigkeit. Von seinen Zugehörigkeiten und sinntragenden
Strukturen abgeschnitten ist der Einzelne gegenüber der Suggestion der Medien
und den sozialen Konditionierungen noch nie so allein, so verwundbar gewesen wie
heute. Er möchte nur noch auf Distanz zu seinem Leben gehen - und zur Politik.
Die heutige Aversion gegen die Politik, der Effizienzschwund derselben und das
Desinteresse am Gemeinwesen zugunsten einer Flucht in private Belange wie
Karriere, Konsum und Freizeit sind nur natürliche Resultate einer Entwicklung,
deren Grundstein vor 40 Jahren gelegt wurde. Die große Idee der
Volkssouveränität und Repräsentation verliert ihren Nimbus und stellt sich
als Farce heraus, die dazu taugt, eine hilflose Expertokratie zu alimentieren,
welche die Inszenierung der Politik für die Medienbühne vorantreibt und die
rationale Fassade des Verwaltungsbetriebes aufrechterhält. Der performative
intentionale Kern politischer Inszenierung löst die Illusion einer wirklichen
Erfahrung der Realität aus. Realität wird zur sekundären, zur medialisierten.
Von richtiger Qualitätsoptimierung keine Spur.
Vor diesem Hintergrund kommt das vorliegende Buch wie gerufen. Spitzer betont in
seinem zentralen Kapitel über "Bildschirmmedien", daß diese von
reinen Profitinteressen bestimmt seien und dadurch die Inhalte an Qualität
nachlassen. Die Gehirne der nächsten Generationen, unserer Kinder, werden
vermüllt. Es geht für Spitzer letztlich um die Zukunfstfähigkeit des gesamten
Volkes. Deshalb sind seine Erkenntnisse wichtig, vor allem ihre unbefangene
Benennung: Zu 41% schaut die Familie heute zusammen Fernsehen. Es verringert
sich die Zeit des effektiven Einflusses der Familie auf ihre Kinder um 480
Stunden auf 690 Stunden. Im Klartext resümiert Spitzer: "Fernsehen im
Vorschulalter führt zu schlechteren Leistungen im Lesen und Schreiben in der
Schule. Diese Effekte sind ganz offensichtlich ‚dosisabhängig’, denn sie
lassen sich in der ersten Klasse noch nicht deutlich nachweisen, wohl aber zwei
Jahre später." Ebenso stellt er fest, daß die emotionale
Frequenzerhöhung bei Vielsehern signifikant geringer ausgeprägt ist als bei
Wenigsehern - ein Zeichen TV-bedingter emotionaler Abstumpfung. Unser Gehirn
bleibt also nicht unberührt von den soziokulturellen Entwicklungen der
Gegenwart. Doch findet der Leser auch viele andere Beiträge im Buch.
So beispielsweise Essays zur "Emotionsregulation", zur
"Kristall-Homöopathie" oder zur "Neurobiologie der Musik".
In letzterer stellt Spitzer dar, wie das Musikempfinden des Menschen
funktioniert, wie stark Musik von Biologie bestimmt wird. Die Wurzeln von
Melodie und Harmonie liegen nämlich in der Neurobiologie des Gehörs des
Menschen, die sich wiederum in Anpassung an physikalische Gesetze der
Schallausbreitung entwickelte. Für den einen ist der Sept-Akkord Ausdruck
unerträglicher Spannung und Dissonanz, während der gleiche Akkord für den
anderen eher den Ruhepunkt darstellt. Man erkennt, daß die subjektive
Erfahrungsabhängigkeit von Musik bedacht werden muß - ein gleichsam
"musikbiologischer Empirismus". Zugleich spielen Emotionen und
Motivationen eine Rolle: Der Mensch teilt selbst der Musik ihre Bedeutung zu.
Empfehlenswert bezüglich der Verknüpfung von Natur- und Geisteswissenschaft
und vor allem für Anthropologen oder Ethnologen ist vorrangig der Text
"Soziale Neurowissenschaft - Warum Vorurteile dumm machen." Hier
beschreibt Spitzer den "Implicite-Association-Test (IAT)", der
nachweist, daß wir es gewohnt sind, weiße Menschen positiver zu betrachten als
schwarze, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen und uns bewußt - sicherlich
auch infolge medialer Konditionierung - gegen solche Reflexe wehren. Spitzer
weist hier auf gleichsam anthropologische Konstanten hin, die nicht durch
künstlich fokussierte alternierende Reflexe "wegzuzüchten" sind. Das
Ausmaß automatischer Reaktionstendenzen beim IAT einer Person läßt sich damit
als ein Maß für deren unbewußte Vorurteile gegenüber Schwarzen verwenden.
Der Begriff des "Unbewußten" stammt freilich nicht erst von Freud,
sondern schon von Leibnitz. Für Leibnitz war das "Unbewußte" aber
nur eine negative Minusstufe des Bewußtseins, kein eigenes Positivum. Das
Unbewußte als starkes Positivum stellt sich also hier gerade im ethnologischen
zwischenmenschlichen Bereich als latente Konstante des Denkens heraus. Spitzer
geht leider auf diese tiefergehenden Zusammenhänge nicht ein.
Dennoch, insgesamt enthält der Band viele sehr lesenswerte Texte mit
Erkenntnissen, die den Alltag und menschliches Verhalten vom menschlichen Gehirn
her verständlich und damit leichter absolvierbar machen. Umfassende
Literaturhinweise zu jeder hier behandelten Rubrik und zu jedem Essay runden das
Buch ab - in Kombination mit einer abschließenden Forderung: "Selbst zu
denken ist ein sehr hoher positiver Wert. Wir sollten eher darauf achten, weder
uns noch anderen Mitmenschen das Denken zu verbieten. (...) Regeln sind für ein
geordnetes Zusammenleben wichtig. Halten wir uns an sie, wenn es sinnvoll
ist."
Fazit
Nach vollendeter Lektüre, wenn sich der Leser wie vom Autor am Anfang
gewünscht auf die Veränderungen im Denken eingelassen hat, wird klar, daß
diese Forderung eine - wenn nicht gar die einzige - für den Alltag
unerlässliche Maxime sinnvollen Verhaltens ist. Sie weist immer auch auf die
subjektive Ermessensgrundlage von Menschen hin und verdeutlicht, daß es
vielmals sinnvoll ist, von einer erstarrten Norm abzuweichen und aus eigener
Reflexion zu handeln. Vielleicht handelt man dann gerade dem eigentlichen
Potential unseres Gehirns angemessen.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 18. November 2007 2007-11-18 11:55:20