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Manfred Spitzer: Nervenkitzel. Neue Geschichten vom Gehirn

Nervenkitzel. Neue Geschichten vom Gehirn

von Manfred Spitzer
Verlag: Suhrkamp Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-518-45820-4

Preis: 9,50 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. November 2024]
"Das Buch eignet sich nicht dazu, in den Bücherschrank gestellt zu werden. Dort macht es nicht viel her. Aber im Kopf des Lesers wird es Veränderungen bewirken - und darauf kommt es mir an." So gibt der Verfasser des vorliegenden Buches gleich im Vorwort zu bedenken. Und in der Tat: Der Leser tut gut daran, dieser Maxime zu folgen, denn was er hier zu lesen bekommt tritt mit dem absoluten und zu Recht betonten Anspruch auf, im praktischen Leben umgesetzt und bedacht zu werden. Wissenschaft - auch diejenige vom Gehirn, die Neurobiologie - kann man nicht ernsthaft betreiben, ohne Konsequenzen für die Gesellschaft zu ziehen. Damit nimmt der Autor gleichsam dezidiert Abstand von einer formalen Logik des Denkens, die völlig indifferent ist gegenüber praktischen Wahrheitsfragen, und fordert ein sich selbst begründendes oder wenigstens nach Begründung und zugleich praktischer Realisierung suchendes Denken.

Nach dem Erfolgsbuch "Nervensachen", welches auch noch zu besprechen sein wird, stellt der Hirnforscher Manfred Spitzer, der Leiter der Universitätsklinik Ulm für Psychiatrie und des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen ist, neue Geschichten vom Gehirn vor. Sie verknüpfen vortreffliche Unterhaltung mit beeindruckenden Fakten über unser wichtigstes Organ. Warum merken sich Achtjährige Pokemon-Karten leichter als Tierbilder? Wie schwört unser Hirn Rache, und wie bildet es Vertrauen aus? Und was hat Weihnachten mit der Hirnforschung zu tun? Das Buch ist zugleich ein Produkt der erfolgreichen Zusammenarbeit von Geistes- und Naturwissenschaften - beispielsweise im Kapitel über Medien, in welchem die Auswirkung des ungehemmten TV-Konsums sowohl neurologisch dargeboten wird, als auch eine Sozialkritik latent mitschwingt.

Rückblende! Zwischen 1950 und 1975 stieg das Pro-Kopf-Volkseinkommen real auf das Vierfache an, während das Pro-Kopf-Arbeitsvolumen um ein Viertel abnahm. In den 1990er Jahren machten sich mehr als die Hälfte der Deutschen große Sorgen um die Arbeitslosigkeit. Von seinen Zugehörigkeiten und sinntragenden Strukturen abgeschnitten ist der Einzelne gegenüber der Suggestion der Medien und den sozialen Konditionierungen noch nie so allein, so verwundbar gewesen wie heute. Er möchte nur noch auf Distanz zu seinem Leben gehen - und zur Politik.

Die heutige Aversion gegen die Politik, der Effizienzschwund derselben und das Desinteresse am Gemeinwesen zugunsten einer Flucht in private Belange wie Karriere, Konsum und Freizeit sind nur natürliche Resultate einer Entwicklung, deren Grundstein vor 40 Jahren gelegt wurde. Die große Idee der Volkssouveränität und Repräsentation verliert ihren Nimbus und stellt sich als Farce heraus, die dazu taugt, eine hilflose Expertokratie zu alimentieren, welche die Inszenierung der Politik für die Medienbühne vorantreibt und die rationale Fassade des Verwaltungsbetriebes aufrechterhält. Der performative intentionale Kern politischer Inszenierung löst die Illusion einer wirklichen Erfahrung der Realität aus. Realität wird zur sekundären, zur medialisierten. Von richtiger Qualitätsoptimierung keine Spur.

Vor diesem Hintergrund kommt das vorliegende Buch wie gerufen. Spitzer betont in seinem zentralen Kapitel über "Bildschirmmedien", daß diese von reinen Profitinteressen bestimmt seien und dadurch die Inhalte an Qualität nachlassen. Die Gehirne der nächsten Generationen, unserer Kinder, werden vermüllt. Es geht für Spitzer letztlich um die Zukunfstfähigkeit des gesamten Volkes. Deshalb sind seine Erkenntnisse wichtig, vor allem ihre unbefangene Benennung: Zu 41% schaut die Familie heute zusammen Fernsehen. Es verringert sich die Zeit des effektiven Einflusses der Familie auf ihre Kinder um 480 Stunden auf 690 Stunden. Im Klartext resümiert Spitzer: "Fernsehen im Vorschulalter führt zu schlechteren Leistungen im Lesen und Schreiben in der Schule. Diese Effekte sind ganz offensichtlich ‚dosisabhängig’, denn sie lassen sich in der ersten Klasse noch nicht deutlich nachweisen, wohl aber zwei Jahre später." Ebenso stellt er fest, daß die emotionale Frequenzerhöhung bei Vielsehern signifikant geringer ausgeprägt ist als bei Wenigsehern - ein Zeichen TV-bedingter emotionaler Abstumpfung. Unser Gehirn bleibt also nicht unberührt von den soziokulturellen Entwicklungen der Gegenwart. Doch findet der Leser auch viele andere Beiträge im Buch.

So beispielsweise Essays zur "Emotionsregulation", zur "Kristall-Homöopathie" oder zur "Neurobiologie der Musik". In letzterer stellt Spitzer dar, wie das Musikempfinden des Menschen funktioniert, wie stark Musik von Biologie bestimmt wird. Die Wurzeln von Melodie und Harmonie liegen nämlich in der Neurobiologie des Gehörs des Menschen, die sich wiederum in Anpassung an physikalische Gesetze der Schallausbreitung entwickelte. Für den einen ist der Sept-Akkord Ausdruck unerträglicher Spannung und Dissonanz, während der gleiche Akkord für den anderen eher den Ruhepunkt darstellt. Man erkennt, daß die subjektive Erfahrungsabhängigkeit von Musik bedacht werden muß - ein gleichsam "musikbiologischer Empirismus". Zugleich spielen Emotionen und Motivationen eine Rolle: Der Mensch teilt selbst der Musik ihre Bedeutung zu.

Empfehlenswert bezüglich der Verknüpfung von Natur- und Geisteswissenschaft und vor allem für Anthropologen oder Ethnologen ist vorrangig der Text "Soziale Neurowissenschaft - Warum Vorurteile dumm machen." Hier beschreibt Spitzer den "Implicite-Association-Test (IAT)", der nachweist, daß wir es gewohnt sind, weiße Menschen positiver zu betrachten als schwarze, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen und uns bewußt - sicherlich auch infolge medialer Konditionierung - gegen solche Reflexe wehren. Spitzer weist hier auf gleichsam anthropologische Konstanten hin, die nicht durch künstlich fokussierte alternierende Reflexe "wegzuzüchten" sind. Das Ausmaß automatischer Reaktionstendenzen beim IAT einer Person läßt sich damit als ein Maß für deren unbewußte Vorurteile gegenüber Schwarzen verwenden. Der Begriff des "Unbewußten" stammt freilich nicht erst von Freud, sondern schon von Leibnitz. Für Leibnitz war das "Unbewußte" aber nur eine negative Minusstufe des Bewußtseins, kein eigenes Positivum. Das Unbewußte als starkes Positivum stellt sich also hier gerade im ethnologischen zwischenmenschlichen Bereich als latente Konstante des Denkens heraus. Spitzer geht leider auf diese tiefergehenden Zusammenhänge nicht ein.

Dennoch, insgesamt enthält der Band viele sehr lesenswerte Texte mit Erkenntnissen, die den Alltag und menschliches Verhalten vom menschlichen Gehirn her verständlich und damit leichter absolvierbar machen. Umfassende Literaturhinweise zu jeder hier behandelten Rubrik und zu jedem Essay runden das Buch ab - in Kombination mit einer abschließenden Forderung: "Selbst zu denken ist ein sehr hoher positiver Wert. Wir sollten eher darauf achten, weder uns noch anderen Mitmenschen das Denken zu verbieten. (...) Regeln sind für ein geordnetes Zusammenleben wichtig. Halten wir uns an sie, wenn es sinnvoll ist."
Fazit
Nach vollendeter Lektüre, wenn sich der Leser wie vom Autor am Anfang gewünscht auf die Veränderungen im Denken eingelassen hat, wird klar, daß diese Forderung eine - wenn nicht gar die einzige - für den Alltag unerlässliche Maxime sinnvollen Verhaltens ist. Sie weist immer auch auf die subjektive Ermessensgrundlage von Menschen hin und verdeutlicht, daß es vielmals sinnvoll ist, von einer erstarrten Norm abzuweichen und aus eigener Reflexion zu handeln. Vielleicht handelt man dann gerade dem eigentlichen Potential unseres Gehirns angemessen.
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne
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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 18. November 2007

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