Heinrich August Winkler ist mit seinen bahnbrechenden Werken über die Weimarer
Republik und den "langen Weg nach Westen", der deutschen Geschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts, bekannt geworden. Es ist diese Zeit, die Winkler
auch in seinen geschichtspolitischen Essays betrachtet. Der vorliegende Band
versammelt zwanzig Publikationen, die in Zeitungen oder Sammelbänden
veröffentlicht wurden. Den Abschluss bildet seine Abschiedsvorlesung an der
Humboldt-Universität in Berlin, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2007
tätig war.
Im Zentrum dieser Aufsätze steht Deutschlands "langer Weg nach
Westen". Dieser Weg sei mit der deutschen Einheit 1990 endgültig
abgeschlossen worden. Die Wiedervereinigung 1990 bedeutete laut Winkler
dreierlei: Sie klärte die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der
deutsch-polnischen Grenze als zukünftiger Ostgrenze Deutschlands unter Verzicht
auf die früheren östlich von Oder und Neiße liegenden, heute zu Polen und
Rußland (Königsberg) gehörenden Gebiete. Zweitens war die alte
Doppelforderung von 1848, der nach Einheit und Freiheit, verwirklicht. Drittens
war Deutschland in das westliche Bündnis und Wertesystem eingebunden und ging
keinen nationalen "Sonderweg" mehr. Diese Thesen Winklers finden sich
auch in seinem zweibändigen Werk: "Der lange Weg nach Westen."
Insofern ist für Kenner des Winklerschen Werkes die Aufsatzsammlung selber
keine Überraschung. Sie zeigen, wie Deutschland, welches durch
obrigkeitsstaatliches Denken und seine politische Kultur und Tradition -
insbesondere den, einen Gegensatz zwischen "Kultur" und
"Zivilisation" zu gerieren, den es nicht gab, einen anderen Weg ging
als seine westlichen Nachbarn. Ob man dies - und den preußischen Einfluß - im
Anschluss an Hans-Ullrich Wehler nun als "Sonderbedingungen" der
deutschen Geschichte beschreibt, ob man dies als "Sonderweg" - von der
westlichen Entwicklung sieht (wie Winkler) oder ob man - wie etwa Wilhelm von
Sternburg in seinem Band: "Deutsche Republiken: Scheitern und Triumph der
Demokratie" (1999)keinen deutschen "Sonderweg" gelten lassen
möchte ("Aber dies alles war noch kein "Sonderweg" (Wilhelm von
Sternburg)) ist eine der diskutierten und umstrittenen Fragen in der Geschichts-
und Politikwissenschaft bis heute. Für alle diese Auffassungen gibt es m.E.
plausible Argumente.
Insofern bietet der Band auf den ersten Blick nichts "neues". Wohl
aber fasziniert er den Leser durch genaue Analyse in den großen Linien ebenso
wie im Detail. Jede von Winklers Feststellungen wird akribisch mit Quellen
belegt (und die zu Rate gezogenen Quellen - oft Originalquellen, mit denen
Winkler seine Thesen belegt, sind beeindruckend). Winkler selber ist auch
durchaus fähig zu selbstkritischem Denken. Dies wird vor allem im Vergleich
zweier Aufsätze zum Historikerstreit deutlich, die hintereinander in dieser
Sammlung abgedruckt sind. "Auf ewig in Hitlers Schatten?", der
Aufsatz, der den Buchtitel bildet, erschien erstmals 1986 in der Frankfurter
Rundschau. Doch in dem folgenden Beitrag "Kehrseitenbesichtigung",
beinahe 10 Jahre nach dem ersten Aufsatz ebenfalls in der Frankfurter Rundschau
publiziert, geht Winkler durchaus kritisch mit Teilen seiner früheren
Schlussfolgerungen um, v.a.mit seiner Feststellung am Ende des Erstaufsatzes,
angesichts der Rolle, die Deutschland bei der Entstehung der beiden Weltkriege
gespielt habe, könne Europa und sollten auch die Deutschen ein neues
politisches Reich, einen souveränen Nationalstaat, nicht mehr wollen. Diese
Feststellung von 1986 revidiert Winkler in seinem späteren Beitrag. "An
meinem eigenen Beitrag...stört mich heute die Selbstgewißheit, mit der ich
damals Künftiges vorwegnahm....Woher konnte ich wissen, dass es einen deutschen
Nationalstaat nicht mehr geben würde?" (S. 146). Diese Fähigkeit zur
Infragestellung der eigenen Auffassungen hat mir sehr imponiert und zeugt von
einer wirklichen liberalen Haltung, für die dieser Historiker steht.
Doch worin liegt das Besondere dieses Buches - gerade gegenüber dem
Standardwerk: "Der lange Weg nach Westen?" Er liegt an dem letzten
Beitrag: "Was heißt westliche Wertegemeinschaft?" Hier - in seiner
letzten Vorlesung als Professor an der Berliner Humboldt-Universität, liegt der
wahre Wert dieses Buches - und so viel sei als Fazit schon vorweggenommen: schon
um dieses einen Aufsatzes willen, der im April-Heft der Zeitschrift
"Internationale Politik" abgedruckt worden war, lohnt sich der Kauf
dieses Buches. Winkler analysiert genau, was er unter "westlicher
Wertegemeinschaft" versteht und belegt seinen "Versuch einer
Begriffserklärung" (S. 180) anhand von drei Thesen: Es gibt - so Winkler -
keine europäischen, sondern nur westliche Werte. Nur der Westen habe als
Grundlage von eigenen Werten "dualistischen Geist" und infolgedessen
Widerstandsrecht und Gewaltenteilung hervorgebracht. Diese Gewaltenteilung
untersucht Winkler anhand eines Vergleiches der amerikanischen und der
französischen Verfassung. In den Menschenrechtserklärungen des späten 18.
Jahrhunderts - die ein Ergebnis des transatlantischen Zusammenwirkens gewesen
seien - wurde der Grund für eine gemeinsame Wertegemeinschaft gelegt: das
"politische Projekt" des Westens. Die zweite These Winklers: Die
Verwestlichung des Westens war ein ungleicher Prozess, dessen Hauptmerkmal die
Ungleichzeitigkeit gewesen sei. Hier gelingt Winkler in Kurzfassung eine
vergleichende Zusammenfassung der unterschiedlichen
Demokratisierungsfortschritte in den westlichen Ländern - von der als von ihm
als durchaus konservativ gesehenen amerikanischen Revolution (konservativ, weil
sie vom britischen König Rechte einforderte, die die britische Verfassung den
Bürgern garantierte und die verletzt worden waren) über die französische
Revolution, die mit der englischen "glorious Revolution" beginnende
Ausweitung der Partizipationsrechte, dem konfliktreichen Weg zur
Demokratisierung in Spanien und Portugal sowie dem spät geeinten Italien.
"In keinem Land des Okzidents stießen die demokratischen Ideen des Westens
auf so hartnäckigen Widerstand wie in Deutschland". So konnte Ernst Bloch
1932 Deutschland das "klassische Land de Ungleichzeitigkeit" nennen -
eine korrekte These, wie Winkler zeigt. Es bedurfte der Erfahrung der
nationalsozialistischen Diktatur, dem Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen
die politischen Ideen des Westens, um den antiwestlichen Ressentiments der
deutschen Eliten und breiten Schichten der Bevölkerung allmählich den Boden zu
entziehen. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende seines
anti-westlichen "Sonderweges" sei nun die Wiedervereinigung des
Westens mit der Aufnahme von acht mitteleuropäischen Staaten, die alle zum
alten Okzident, jenem Teil Europas gehörten, die im Mittelalter ihr geistliches
Zentrum in Rom hatten und zur Westkirche gehörten, in Angriff genommen worden.
Nur dieser Teil Europas hatte die beiden vormodernen Formen der Gewaltenteilung,
die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt und die von fürstlicher und
ständischer Gewalt erlebt. Folglich können nun "zusammenwachsen, was
zusammen gehört" (Willy Brandt). Winkler fordert von allen Staaten der EU
die "vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des
Westens." Dies müsse das Kriterium sein, an dem die Europäische Union
ihre Mitglieder und alle Staaten messe, die ihr beitreten wollten. Um sich
gegenüber der politischen Kultur des Westens zu öffnn, müsse man keinen Teil
des historischen Okzidents bilden, aber die westlichen Werte und die Normen, die
den Kopenhagener Beitrittskriterien der EU von 1993 zugrunde liegen,
akzeptieren. Die politische Kultur des Westens - so Winklers dritte These - sei
pluralistisch und müsse deshalb eine Streitkultur sein und bleiben.
Mehrheitsherrschaft alleine sei - wie das Ende Weimars gezeigt habe - eben kein
Garant der Demokratie, wenn es keine hinreichend große Gemeinsamkeit an
Grundwerten gäbe. Auch das Scheitern der Demokratisierung des Irak nach 2003
zeige, dass ohne die Erfahrung dieser gemeinsamen Werte ein fremdes Land sich
eben nicht zur Demokratie umerziehen lasse. "Westliche Errungenschaften bis
hin zum Rechtsstaat, der Gewaltenteilung und der Demokratie sind schon von
zahlreichen nicht-westlichen Gesellschaften übernommen worden...Doch der Westen
hat längst aufghört, die Welt zu dominieren...Der Anspruch der
unveräußerlichen Menschenrechte aber bleibt ein universaler. Da ihre globale
Durchsetzung sich nicht erzwingen lässt, kann der Westen nichts Besseres für
sie tun, als sich an seine eigenen Werte zu halten, für sie zu werben und dort,
wo es möglich ist, den krassesten Verletzungen des Menschenrechte[s] mit allen
Mitteln, einschließlich humanitärer Interventionen, entgegenzutreten. Folglich
müßte der Westen insgesamt sich für eine entsprechende Reform der Vereinten
Nationen und eine Überarbeitung ihrer Charta, also für eine Weiterentwicklung
des Völkerrechts, stark machen...Aus der Geschichte des Westens läßt sich
lernen...Das Projekt des Westens ist unvollendet, und wird es vermutlich immer
bleiben. Aber es läßt sich weiterentwicklen. Wenn der Westen den Gedanken der
Wertegemeinschaft nicht nur feierlich beschwört, sondern ernst nimmt, kann er
noch viel für die allgemeine Geltung der Werte tun, die wir aus guten
historischen Gründen die "westlichen" nennen." (S. 201).
Es ist dieser - bahnbrechende - Aufsatz, der zeigt, dass Geschichte eben nicht
nur eine Wiederholung von Fakten darstellt, sondern dass aus ihr gelernt werden
kann. Hier gibt Winkler - gut fundierte - Ratschläge an eine künftige Politik
des Westens, die meines Erachtens ernst genommen werden müssen. Ein wichtiger
Anlass, dieses - hervorragende und nicht immer leichte Buch - gründlich zu
lesen.
Fazit
Ich kann es nur jedem - dem historisch interessierten Laien, dem Schüler, dem
Geschichts- und Politikstudenten und Lehrern und Kollegen empfehlen. Die Essays
richten sich ganz bewußt an ein breies, historisch interessiertes Publikum,
nicht nur an Fachleute. Alle kommen mit diesem Buch auf ihre Kosten. Absolut
lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 07. November 2007 2007-11-07 22:10:10