Er sah sich selbst als Dichterdenker, der aus der Vogelperspektive die
Geschichte der Kulturen beschreiben wollte und für sich eine höhere Wahrheit
beanspruchte - Oswald Spengler (1880-1936). Er wollte Poesie betreiben, ein
mythopoetisches Kunstwerk schaffen, er war ein Metahistoriker, d.h. er dachte
eher über den Sinn der Geschichte nach als über die Richtigkeit historischer
Fakten, und er interessierte sich mehr für metaphysische Phänomene, die
historischen Prozessen zugrunde lagen, und für die symbolische Bedeutung
historischer Ereignisse als für wissenschaftliche Erkenntnisse. Wer sich nicht
auf diese Ebene - zusammen mit Spengler - stellt, wird sein Anliegen nicht
verstehen (wollen).
Dennoch, auf polemische Weise führte er mit seiner Kulturkreistheorie den
Deutschen die tatsächliche Situation in ihrem Lande vor Augen und forderte sie
auf, daraus Konsequenzen zu ziehen. Das vorliegende Buch ist sein Hauptwerk,
erschienen 2000 bei dtv. Es bietet seine Geschichtsphilosophie in Gänze recht
preiswert dar.
Edgar Julius Jung (1894-1934), Verfasser der 1934 von Franz von Papen gehaltenen
Marburger Rede, schrieb über die Bücher Spenglers: "Diese Schriften, von
denen keine veraltet ist, schon weil alle darauf warten, erst noch verstanden zu
werden, tragen einen Wert in sich." Ohne Zweifel ist das Buch "Der
Untergang des Abendlandes" hier von besonderer Bedeutung. Spengler erklärt
darin sowohl die kausalen Erklärungsmodelle des Positivismus Darwins und
Newtons als auch den historischen Materialismus von Marx als völlig ungeeignet
für die historischen Wissenschaften. Dies verdeutlicht er selbst in seiner
Neigung zu poetisch-visionärer Bildersprache, die zugleich den Leser mit einem
gewissen Realismus beeindruckt. Er erkennt eine konservative Weltanschauung, die
latent die Konturen einer politischen Theorie trägt.
Spenglers Geschichtsdenken ist futuristisch. Als Konservativer ging es ihm nicht
um eine ausschließlich in die Zukunft reichende Zielsetzung von Politik und
Kultur, sondern er war im Kern seiner Vision vom "Untergang" der
Überzeugung, daß die zukünftigen historischen Erbschaften des Menschen, seine
Gemeinschaften, die Völker und Sprachen auf die industrielle Gesellschaft
zurückwirken, im Rahmen von Widerstand, von pragmatischen Inseln an
Menschlichkeit samt ihrem Anspruch an Innerlichkeit und Freiheit. Diese Inseln
sind der Sporn im Fleische des "sekundären Systems" (Hans Freyer), im
Fleische eines auf Profit bedachten Lebens und Denkens, welches Spengler in
seinem Buch kurz als den Zustand der "Zivilisation" bezeichnet.
Zivilisation bedeutet ihm die Entseelung des Menschen. Es fehlt ihm in dieser
Epoche an künstlerischer Inspiration, moralisch-religiösem Bewußtsein und
innerem Erleben. Diese Dekadenzstimmung des Fin-de-siècle, die Spengler so
stark beeinflusste, war Ausdruck eines kulturellen Krisenbewußtseins und einer
Angst vor dem Niedergang des eigenen sozial-ökonomischen Status.
Die zyklische Theorie Spenglers, wonach Kulturen ihrem Ende entgegenarbeiten,
gehört zum Strang der Kulturpessimisten u.a. im Gefolge des als Vermittler
zwischen Schopenhauer und Nietzsche geltenden Philosophen Philipp Mainländer,
dessen Szenario der innerweltlichen "Autodestruktion" (Ulrich
Horstmann) sowie der menschlichen und kulturellen Erosion nur noch wenigen
bekannt ist. Ob Spengler Mainländer kannte, ist nicht erwiesen; als Verehrer
Nietzsches proklamierte sich Spengler hingegen selbst. Er erklärt die Krise der
westlichen Zivilisation in "Der Untergang des Abendlandes" (1919)
über den Topos der Antithese von Kultur und Zivilisation im Rahmen der Periodik
eines unvermeidlichen organischen Ablaufes von Kulturen, die infolge eines
zunächst vitalen Lebens in der Zivilisation gipfeln. Wohl wissend um die
Brillianz des wissenschaftlich-rationalen Denkens und die Kraft der Ästhetik
technischer Errungenschaften, wagt es Spengler zu behaupten, daß in den
äußeren Merkmalen einer Kultur das innere ausgedrückt werde. Die Zivilisation
sei das unausweichliche Schicksal einer Kultur.
Der "Untergang des Abendlandes" ist aber mehr als nur eine
Zukunftsphilosophie. Das Buch trägt eine dichterisch umsäumte und sprachlich
ergreifende politische Botschaft. Metaphysik, Kulturphilosophie und Politik sind
in ihm eng verbunden und versammeln sich zur Artikulation eines subjektiven
Anliegens. Spengler stellt ganz individuell die Veränderung des sozialen und
politischen Raumes bis in die Zukunft hinein fest. Das Aussprechen
existentieller individueller Erfahrungen, wie die Furcht vor dem Zusammenbruch
einer haltgebenden Ordnung, schärfte sein Krisenbewußtsein, womit der Titel
seines Hauptwerkes eigentlich verständlich wird. In seinem Buch spricht er
kulturphilosophisch vom "Urgefühl der Sehnsucht", von
"Weltangst" und der "Gewißheit eines Schicksals".
Die heute kaum noch oder immer mehr vernehmbare Feindschaft gegen das liberale
und ausschließlich individualistische Prinzip des ‚Westens’ oder jenes
Konstrukt, das sich als "liberal" in aller Welt proklamiert, tut sich
schon bei Spengler kund. Ihm setzte er ein seiner Meinung nach
ordnungsstiftendes transindividuelles Gemeinschaftsprinzip entgegen, verbindet
es mit einer apokalyptischen Aufladung der deutschen Geschichte als Chiffre für
die Vision einer haltgebenden Institution von Staat und trifft damit nach wie
vor die politischen Gemüter - den Geist der Zeit. Auch Spengler entzog sich
also im "Untergang" nicht den direkt politischen Inhalten. Sein Buch
ist diesbezüglich das ausdruckstärkste Werk.
Eine zunehmende Atomisierung und Entzweiung des Lebens, die Leichtgläubigkeit
des Menschen angesichts winkender Vorteile sind befürchtete Schrecknisse für
Spengler, der Angst, Neurose, allgemeine Primitivierung und Realitätsverlust
der Massengesellschaft als zerstörerisches Potential eines vitalen Staates
ausmachte.
Die vorliegende Ausgabe des "Untergangs" vom dtv-Verlag zeichnet sich
vor allem durch das nüchterne Nachwort von Detlef Felken aus, der für den
Leser die Rezeptionsgeschichte, eine Biographie und weitere Analogien
spenglerischen Denkens beispielsweise zu Toynbee darlegt. Interessant ist im
Nachwort, daß Felken meint: "Die Symptomatik der Krise hat sich seither in
vielem gewandelt, aber das Krisenbewußtsein selbst ist ein konstanter Begleiter
des 20. Jahrhunderts geblieben." Man möchte sagen, daß es dies auch im
21. Jahrhundert bleiben wird. Freilich, die Aussage, daß eine
"Spengler-Renaissance" bisher nicht stattgefunden habe, mag auf die
Zeit der Veröffentlichung dieser Ausgabe im Jahre 2000 zurückzuführen sein,
denn erst in den vergangenen sieben Jahren sind viele neue Studien zu Spengler
und auch Neuausgaben seiner eigenen Schriften erschienen. Darin scheint Felken
widerlegt. Von diesen neuen Schriften wird demnächst die nüchterne Analyse
"Jahre der Entscheidung" von 1933 noch zu besprechen sein.
Im "Untergang des Abendlandes" zumindest steckt die Botschaft, daß
man in Übereinstimmung mit dem Stand der Zivilisation die moderne Zeit
akzeptieren sollte, aber zugleich zum politischen Aktivismus und zum Widerstand
übergehen kann - bereit sein sollte. Das vage Profil eines Führertypus und das
Plädoyer für eine pragmatische Machtelite jenseits des Parteihaders bildeten
deshalb Spenglers politischen Hauptideenkomplex. So läßt sich resümierend
auch eine wichtige und oft verkannte "Realdialektik" (Bahnsen) bei
Spengler feststellen: Spengler vergötterte das Schicksal, das zum Untergang des
Abendlandes führen müsse, aber zugleich werde es einen neuen vitalen
Cäsarismus, neue politische Leistungsbereitschaft ausgehend von zunächst
wenigen mit sich bringen und entfalten - "Ich sehe schärfer als andere,
weil ich unabhängig denke, von Parteien, Richtungen und Interessen frei.... Ich
sehe noch mehr voraus, aber ich fühle mich einsamer als je, nicht etwa wie
unter Blinden, sondern wie unter Leuten, die ihre Augen verbunden haben, um den
Einsturz des Hauses nicht zu sehen. Will man mich endlich hören und nicht nur
lesen?" Anregend und bedrückend - so also der Eindruck bei der Lektüre.
Beides jedoch hat im Leben seine Berechtigung. So auch Spenglers Werk - wenn man
gewillt ist, sich ihm zu öffnen.
Fazit
Im "Untergang des Abendlandes" zumindest steckt - unerwartet - die
Botschaft, daß man in Übereinstimmung mit dem Stand der Zivilisation die
moderne Zeit akzeptieren sollte.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 24. Oktober 2007 2007-10-24 12:44:19