Die Erstausgabe des "Untiers" von Ulrich Horstmann erschien 1983 im
Wiener Medusa-Verlag. Mit dem vorliegenden Buch des Hoof-Verlages erscheint
dieses damals Furore machende Buch in erneuter Auflage, ergänzt um ein sowohl
biographisches als auch bibliographisches Nachwort über den Autor. Und gewiß,
die Schrift Horstmanns hat nichts an Bedeutung verloren. Das Stichwort für die
im Nachwort vorgeschlagene Lesart des "Untiers" nämlich stammt von
Michael Pauen und lautet "sekundärer Pessimismus". Gegenüber der
Krisenhypothese, die den Pessimismus als Reaktion auf historische
Defizienzerfahrungen erklärt, läßt sich zeigen, daß Horstmanns Pessimismus
eine Form der Inszenierung von Kritik und Kritiker ist, eine Essenz
mythopoetischer Leidenschaft, die deshalb zu einer Ästhetisierung des Leidens,
der Verwandlung von Grauen in Genuss sowohl in der Lage als auch literarisch
berechtigt ist.
Wir haben hier ein Werk vorliegen, welches die mit Schopenhauer seicht
beginnende aber niemals dergleichen benannte anthropofugale Perspektive im
Nachkriegsdeutschland neu zu denken und gleichsam konsequent auszugestalten sich
vorwagt. Die anthropofugale Perspektive definiert Horstmann selbst: Gemeint ist
ein Auf-Distanz-Gehen des "Untiers" zu sich selbst und seiner
Geschichte, ein unparteiisches Zusehen, ein "Aussetzen des scheinbar
universalen Sympathiegebots mit der Gattung", der der Nachdenkende selbst
angehört, ein Kappen der affektiven Bindungen, schlichtweg - so ließe sich
sagen - ein philosophisches Reflektieren aus der Beobachterperspektive heraus,
die sich des weltimmanenten Irrsinns, der oftmals gerade als
"Vernunft" auftritt, aus eigener Verantwortung heraus entzieht.
Was Horstmann hier kaum länger als in sechs Wochen, bis das Manuskript fertig
gestellt war, schrieb, ist nichts Geringeres als die Ankündigung der
unmittelbar bevorstehenden Selbstabschaffung des "Untiers" Mensch,
wobei ihm "Mensch" als terminologischer Euphemismus gilt. Wer dies zu
sagen sich berufen fühlt, sieht den Menschen, das potentielle Untier, wie
Horstmann aus der anthropofugalen Perspektive der Gleichgültigkeit gegenüber
der Hybris nicht enden wollender Glücksansprüche des Menschen in der
Gegenwart. Diese Perspektive gewinnt heute an Land, und so schrieb schon 2001
der französische Philosoph Pascal Bruckner, er liebe das Leben zu sehr, um
glücklich sein zu wollen. (Bruckner: Verdammt zum Glück, 2001, S. 14)
Horstmann wiederum geht noch weiter, wie es die deutschen Philosophen gleichsam
gattungscharakteristisch oft taten: Er zeichnet einen interessanten Bogen
anthropofugalen Denkens beginnend bei Paul Thiry d’Holbachs (1723-1789)
"System der Natur", der zuerst erkannte, daß das Organische ein
großes wechselseitiges Würgen, Schlingen und Einverleiben ohne Ende ist. Um
das Gefängnis des Gattungsnarzismus anzuprangern und ganz zu überwinden,
landet Horstmann bei Schopenhauers (1788-1860) Ansicht, "daß wir besser
nicht da wären." Dieser Bogen des Denkens im Dienste anthropofugaler
Kunst, die als "anthropofugale Vernunft" zu bezeichnen Horstmann viel
Energie verwendet, mag für Außenstehende einigermaßen fremd wirken, doch wer
genauer hinschaut, erkennt, daß im Schlagschatten des akademischen
Sachverstands und der wissenschaftlichen Linientreue hier lediglich etwas ans
Licht gerät, das sich der "Schönheit der Menschenleere" bewußt ist
und die "plärrende Ichsucht unserer Gattung seit einigen
Jahrhunderten" - man könnte meinen auch innerhalb der bundesdeutschen
Akademikerzunft - nicht mehr wahrhaben will. Infolge des
(militär)technologischen Fortschritts ist sie inzwischen sogar tatsächlich
überwindbar geworden. Es geht um eine denkerische - eben philosophische -
Perspektive des großen Infernos.
Neben Eduard Hartmann (1842-1906) und der methodischen Modifikation
Nietzscheschen Denkens, daß das Leben nicht dem Ziel des Nihilismus und der
damit zusammenhängenden Umwertung aller Werte diene, sondern dem Annihilismus -
d.h. der Selbstaufhebung des "Untiers" mitsamt seiner Gier nach
Wahrheit -, tauchen hier Züge einer "anthropofugalen Aufklärung"
auf, die sich gegen den spekulativen Defätismus der Friedensforschung und die
selbstbeweihräuchernden Festreden der innerakademischen oder innerpolitischen
Zunft richtet. Horstmanns Parteiergreifung für die anthropofugalen Tendenzen
findet schließlich Bestätigung bei Ludwig Klages’ (1872-1956)
"Unabwendbarkeit des Untergangs", der die Rücknahme des Menschen
propagiert und ein vorbewußtes Vitales vergöttert. Ferner bei E.M. Cioran
(1911-1995) mit seiner Bezeichnung des Menschen als "wissende
Totgeburt": "Was ist diese Masse von Hampelmännern, die mit roten
Blutkörperchen vollgestopft wurden, um die Geschichte mitsamt ihren Grimassen
zu gebären."
Der Leser hat hier in jeder Zeile die geballte Energie des Ersehnens eines
anorganischen Zustandes vor sich, eine anthropofugale Perspektive als Sehnsucht
nach Frieden, als Sehnsucht nach dem, was diese Perspektive - zumindest
weltimmanent - verabscheut, vorbewußt und präsozial aber anerkennnen müßte:
den Frieden, der nur als Frieden des Nichts konsequent realisiert ist. Damit
begründet Horstmann angesichts nicht enden wollenden Elends in der Welt das
Konzept des "verantwortungsvollen Annihilismus", einer
Minoritätenperspektive, die als geistiges Experiment und aus denkerische
Leidenschaft die Selbstauslöschung des Menschen und jeden einzelnen Individuums
zu denken wagt. Enttäuschend sind hier lediglich wenige Aspekte in diesem
geistigen Stahlgewitter gegen die Bastionen vermeintlich umfassend erreichbaren
Glücks.
Horstmann erwähnt nicht Leben und Werk des eigentlich ersten gradlinig lebenden
und sterbenden anthropofugalen Denkers, nämlich Philipp Mainländer
(1841-1876). Dieser Philosoph, von dem Horstmann in seiner ersten Ausgabe ggf.
noch nicht wußte, hätte in der neuen Ausgabe seines Buches in erweiterter Form
Erwähnung finden müssen. Ein weiterer Irrtum Horstmanns ist seine Haltung zum
Deutschen Idealismus, zu dem er meint: "(...) - der deutsche Idealismus und
sein gespreizter Umgang mit dem Absoluten war ein philosophischer Irrweg
sondergleichen (...)." Leider wird an dieser Stelle nicht darauf
eingegangen, daß es gerade der Vertreter des Deutschen Idealismus G.W.F. Hegel
war und nicht Klages, Nietzsche oder Cioran, der in seiner "Phänomenologie
des Geistes" (1807) bereits den zum Ende des 19. Jahrhunderts erst bei den
Nihilisten oder Annihilisten aktuell werdenden Gedankengang des Todes Gottes,
der Annihilierung und Entäußerung des Menschen aus diesem Bewußtsein des
innerweltlichen Leidens und des Schmerzes heraus antizipierte. Hegel schrieb
nämlich dort zur "Entäußerung der Substanz" im Menschen:
"Jenes hingegen ist umgekehrt das tragische Schicksal der an und für sich
sein sollenden Gewissheit seiner selbst. Es ist das Bewußtsein des Verlustes
aller Wesenheit in dieser Gewissheit seiner und des Verlustes eben dieses
Wissens von sich - der Substanz wie des Selbsts; es ist der Schmerz, der sich
als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist." (Hegel,
Phänomenologie des Geistes, Suhrkamp-Ausgabe 1986, S. 547)
Im Deutschen Idealismus war der Flirt mit dem Absoluten als der dialektischen
Synthese von Leben und Tod, von Leid und Glück heftig und sehr variationsreich,
führte zwar zu keiner stabilen Verbindung, rechtfertigt aber auch nicht die
Bezeichnung als Denken eines "Irrwegs". Denn im Deutschen Idealismus
existiert Gott nicht jenseits der Welt, sondern ist als Geist im menschlichen
Geist gegenwärtig. Dem Menschen kommt eine wichtige Rolle zu: Gott kann sein
Selbstbewußtsein nur mittels des endlichen menschlichen Geistes finden und
erlangen. Es ergeben sich also auch im Deutschen Idealismus die Elemente
notwendiger menschlicher Endlichkeit und Annihilierung sowie das Moment der
potentiell im Menschen angelegten Selbstermächtigung des Menschen zur
Annihilierung seiner Selbst - wodurch Gott erst existiere. Der im endlichen
menschlichen Geist gespürte Gott kann nur durch die Endlichkeit des Menschen,
seine natürliche oder selbstermächtigende Auslöschung, zu Gott werden, was
wiederum eine anthropofugale Tendenz bedeuten kann. Hier hätte Horstmann
methodischen Tiefgang anstelle gewisser Affekte walten lassen müssen, denn die
Synthese zwischen Anthropofugalität und Idealismus ist möglich: So z.B. auch,
wenn der Realdialektiker und anthropofugale Nachfolger Schopenhauers Julius
Bahnsen (1830-1881) in seinen "Mosaiken und Silhouetten" (1877) von
einer "Phänomenologie des Willens" spricht und damit die
anthropofugale Tendenz Schopenhauers mit ihrer Lehre vom Willen als a priori mit
dem phänomenologischen Prinzip des Idealisten Hegel, der die Wesensschau der
innerweltlichen Dinge durch das menschliche Bewußtsein sowie die Selbstfindung
menschlichen Geistes über sich selbst ergründende Selbstreflexion erkannte,
synthetisierte.
Vielleicht ist Bahnsen der Schlüssel zur Versöhnung des Deutschen Idealismus
mit der bei Schopenhauer beginnenden reactio der Anthropofugalität. Die
klassische deutsche Philosophie jedenfalls entbehrt keines solchen Zusammenhangs
dank ihrer geistigen Fülle; sie schreit förmlich nach einer Synthese ihrer
dialektisch diametral entgegengesetzten Pole. - Horstmanns Buch stellt eine
wichtige Perspektive in der so genannten "Moderne" neu in den
Mittelpunkt. Sie gehört definitiv zu solchem Denken, das sich "vital"
nennen möchte, aber in ein Ganzes "Deutscher Philosophie" einzuordnen
wäre.
Fazit
Der Leser erkennt hier viele Wahrheiten, die niemals aus dem Leben
hinauszudefinieren sind.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 03. Oktober 2007 2007-10-03 11:43:43