Heldentum und Leiden sowie das Ertragen und praktische Ausleben beider Elemente
mit entsprechenden Konsequenzen im Leben gehören für den Philosophen wohl zu
leitenden Maximen des Daseins. Und so schrieb der Vermittler zwischen Hegel und
Schopenhauer ("Phänomenologie des Willens") Julius Bahnsen
(1830-1881) in einer noch vor dem Wirken des Charakterologen Ludwig Klages
erschienenen charakterologischen Studie "Es hat ja nämlich jedes
Heldenthum irgendwie sein Correlat an einem Leiden - Abwehr oder Ertragen eines
Leidens ist die Probe des Helden - das vergangene Leid muss er überstanden
haben - das gegenwärtige aushalten - das zukünftige nicht scheuen."
(Julius Bahnsen: Mosaiken und Silhouetten. Charakterographische Situations- und
Entwicklungsbilder, hrsg. von W.H. Müller-Seyfarth, 1995 [1877], Berlin, S. 18)
Gegenwärtig mag dergleichen am besten wohl auf das Leben des Philosophen André
Gorz zutreffen.
"Du wirst zweiundachtzig. Du bist sechs Zentimeter kleiner geworden, du
wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist du schön, graziös
und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich
liebe dich mehr denn je." So beginnt seine neu im Rotpunkt-Verlag
erschienene "Geschichte einer Liebe", die der 83-jährige Philosoph
und Sozialtheoretiker in Form eines langen Briefes über sich, sein Leben und
vor alledem über seine Frau als gleichsam geistiges Testament verfaßte.
"Ich schreibe Dir, um zu verstehen, was ich erlebt habe, was wir zusammen
erlebt haben." - So heißt es dort, womit er 58 Jahre des Zusammenlebens
mit D., seiner Frau, auf wenigen Seiten einschlägig und mitreißend
wiedererstehen läßt. Der Leser hat hier eine Schrift vorliegen, die der
Spiegel eines Lebens ist und welche, soweit man selbst philosophisch veranlagt
ist, als Spiegel für das eigene Schaffen, Leben, Beisammensein und Lieben
geeignet ist.
Gorz blickt zurück auf ein gutes halbes Jahrhundert philosophisch-politischer
und publizistischer Arbeit, bei der D. ihm immer zur Seite stand, ihm seine
Selbstzweifel nahm, ihm als Initiator des eigenen Schreibens den Sinn dessen,
was er schrieb, und den Sinn seiner publizistischen Projekte immer wieder
klarzumachen versuchte. Dieses Buch ist kurz. Es zeigt aber ein komplexes
Beziehungsgefüge auf, eine Liebe, ein gemeinsames Schaffen, eine
schriftstellerische Ambition, die ohne das Beisammensein zweier Menschen nicht
dergleichen gediehen wäre, wie bei Gorz. Er arbeitete mit Jean-Paul Sartre an
dessen Zeitschrift "Les Temps modernes", später als Redakteur bei
"L'Express" und "Le Nouvel Observateur". Seine Schriften wie
"Abschied vom Proletariat" (1980) und "Wege ins Paradies - Thesen
zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit" (1984) waren einflußreiche
Schriften für die politische und ökologische Linke.
Hinter den Kulissen jedoch erkennt der Leser nunmehr einen recht labilen Mann,
der des Zuspruchs für sein Schaffen erst noch bedurfte: "Du warst die
ideale Ergänzung des ununterbrochenen Schreibens (...). Du machtest es mir
möglich, die bedrohliche Welt auszuklammern, (...)." Eine unnachahmliche
Dialektik von Selbstbewußtsein und Selbstzweifel, eine
"Realdialektik" (Julius Bahnsen) des in sich zerrissenen Menschen
scheint auf, welche oftmals gerade Ansporn philosophischen Schaffens ist und
ohne diese Spannung, dieses Mühsal, niemals ihre energetischen Früchte treiben
würde. Das Leid eines Philosophen beschreibt Gorz selbst: "Die Mühsal
verlieh Dir Flügel. Mich dagegen deprimierte sie." Mühsal und
Schaffenskraft gehören offenbar zusammen - keine synthetische Aufhebung,
sondern ein annehmendes Ausleben der Konflikte - das ist der Schlüssel des
Autors in seinem Leben gewesen. Dieses Leben vermag wohl erst am Ende die
geistige Abstraktionsfolie für eine schließlich nur im Tode erreichbare und
abschließende Synthese des Widerspruchs abzugeben. Mit diesem Schlüssel
öffnet Gorz im vorliegenden Buch die Tür zu seiner Lebensphilosophie, die
immer auch eine Liebesphilosophie war.
Das vorliegende Büchlein ist sein letztes Werk. Während des Schreibens dieser
Buchbesprechung geht die Nachricht um die Welt, daß er und Dorine sich am 24.
September 2007 gemeinsam in ihrem Haus in Vosnon/Frankreich das Leben nahmen.
Eine Konsequenz des Handelns, die den eigenen philosophischen und schriftlich
fixierten Überzeugungen entspricht und wie wir sie nur seitens des scheinbar
vergessenen Philipp Mainländer und seiner "Philosophie der Erlösung"
(1876) kennen. Bei beiden scheint folgendes Bild auf: Ein Philosoph, der
freiwillig in den Tod geht, der das irdische Leiden, die ihm zugrunde liegende
Metaphysik der Entropie und des körperlichen Verfalls - auch in der Ehe zweier
Menschen - transzendiert. Die letzten Worte des von der absoluten Virginität
überzeugten Mainländer lauten: "Der Weise blickt fest und freudig dem
absoluten Nichts ins Auge." Die hier nun lesbaren letzten Zeilen von Gorz
muten als Äquivalent auf der Ebene der einander Liebenden an: "Ich lausche
auf Deinen Atem, meine Hand berührt Dich. Jeder von uns möchte den Anderen
nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir
wundersamer Weise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen
möchten." Er handelte zu diesem Zwecke mit seiner Frau im Sinne der
einzigen Möglichkeit, die ihm blieb.
Für den Realdialektiker Bahnsen hätte Gorz womöglich gar nicht anders agieren
können: Die Abwehr oder das Ertragen eines Leidens ist für ihn, wie einleitend
beschrieben, die Probe des Helden, die Gorz absolvierte. - Er ertrug das
zweifelnde Leiden des frühen Philosophen, überstand es, hielt es mit Hilfe
seiner geliebten Frau immer wieder aus, scheute das zukünftige Leiden nicht,
und er wehrte es durch den konsequent ausgeführten Entschluß gemäß seiner
letzten Verheißung im vorliegenden Buch, einander nicht überleben zu wollen,
entschlossen ab. Ob nun also philosophisches Heldentum oder nicht - dieses Buch
hinterläßt einen bleibenden Eindruck!
Fazit
Dieses Buch spricht beim verständigen Leser für sich selbst.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 26. September 2007 2007-09-26 18:52:59