"Man brachte ihn nach Hause, und als er am zwölften Tage bestattet werden
sollte (...), wurde er wieder lebendig. Da erzählte er, was er im Jenseits
gesehen hatte. - Nachdem meine Seele entflohen, wanderte sie mit vielen anderen
gemeinsam nach einem den Menschen nicht zugänglichen Orte." So beginnt die
Beschreibung der wohl ältesten Todeserfahrung, die sich im 10. Buch von Platons
"Der Staat" befindet. Zwar gilt Platon als Wiege der westlichen
Zivilisation und spätere Philosophien lediglich als Fußnote zu ihm, trotzdem
ist sein Vermächtnis und dasjenige der antiken Griechen oftmals rätselhaft.
Daß wir damit auf wesentliche Erkenntnisse und Einsichten verzichten, zeigt der
Psychotherapeut Holger Kalweit, der bereits 2001 das "Totenbuch der
Germanen" - eine umfassende Deutung der "Edda" - herausgab.
Kalweit stellt nunmehr in "Platons Totenbuch" fest, daß
Todeserfahrung immer transkulturell ist, da viele Kulturen auf der Welt
Todeserfahrungen von erstaunlicher Ähnlichkeit zu berichten haben. Doch was ist
der Tod? Da die von Sokrates herrührende Psychologie Platons als Eudaimonie
gilt, als "Friede der Seele", besteht bei den Griechen mit dem Tod des
Körpers schließlich nur noch reiner Geist und Plasma "in Symbiose".
Im Plasma, der Sphäre des Übergangs vom Leben in den Tod, ist das wahr, was
der Mensch individuell geistig ist, was er intuitiv und emotionell für sich als
wahr erkennt. Wir erkennen in ihr als Sterbende was wir fühlen und denken -
schlichtweg erkennen wir uns selber.
Unser Denken beeinflußt das Leben nach dem Tod. Das besondere dabei ist, daß
mit dieser Perspektive, deren Beschreibung eine besondere Leistung Kalweits ist,
Sokrates’ freiwilliges Trinken des Giftbechers um 399 v. Chr. in ganzer
Tragweite erkennbar wird: Weil Philosophen um die gedankliche Beeinflussung der
Todeserfahrung intuitiv wissen, ist der Tod für sie nicht schrecklich, wie er
es für andere Menschen ist, zu denen Sokrates sagen würde, daß sie sich ein
Wissen über die vermeintliche Schrecklichkeit des Tod anmaßen, welches sie gar
nicht haben können.
Platons "Übe zu sterben" als Quintessenz des Lebens besagt also nur:
Erkenne deine Macht bei der Loslösung (lysis) der Seele vom Körper. Hier
hätte Kalweit auch die Bestätigung bei Platon selbst finden können, die er
leider in seinem Buch nicht zitiert. So befindet sich auch im 10. Buch von
Platons "Der Staat" die Aussage: "Daß die Seele unsterblich ist
ergibt sich mit Notwendigkeit aus der eben gegebenen Darlegung, (...). Will man
aber ihr eigentliches Wesen erkennen, so darf man sie nicht in ihrem jetzigen
Zustande der Befleckung durch die Gemeinschaft mit dem Körper und durch andere
Gebrechen studieren. Man muß sie sich mit Hilfe der Denkkraft in ihrer
ursprünglichen Reinheit vor Augen stellen. Dann wird man sie weit herrlicher
finden (...)."
Die Seelenunabhängigkeit von der materiellen Welt steht also als großartige
Leistung des denkenden Philosophen im Mittelpunkt, wobei Sokrates die in diesem
Sinne geistreichste und personifizierte Abweichung von der durchschnittlichen
weil denkfaulen Norm ist und dafür - wie so oft in der Geschichte - büßen
mußte. So werden zwar Philosophen als Sonderlinge fehlgedeutet, ihr göttlicher
Wahnsinn aber ist nur höchste Weisheit, welche mit terminologischen Versuchen
seitens derjenigen, die diese Weisheit nicht erreichen können, dennoch nicht
erfassbar wird.
Es ist dem Autor zu danken, daß damit auch die Philosophen-Schicksale
Nietzsches und Hölderlins verständlich werden: Die Kraft des Werkes und des
Geistes dieser Denker galt für Außenstehende als Irrsinn, da diese den
welttranszendierenden Schritt als gleichsames Heraustreten aus der unmündigen
Schülerhaftigkeit des Geistes nicht zu vollziehen befähigt waren, wie es
Nietzsche und Hölderlin gegenüber der Masse aber taten. So erscheint beim
Durchschauen dieser Dialektik von Genie und Wahnsinn die vermeintliche
"Gemütsverwirrung" des Genies - ein auch heute leider noch aktueller
Vorwurf an Selbstdenker - als eigentlich nahezu göttliche und gewollte
Äußerungsform des Künstlers, des Philosophen oder Poeten. Der schier
unüberwindliche Trübsinn derartig veranlagter Menschen hat seine Ursache
lediglich in einem Zustand unbefriedigten Ehrgeizes innerhalb einer Welt der
Mittelmäßigkeit, die ein Gespür für die Kraft des Sinnlichen nicht zu
entwickeln in der Lage ist.
Edgar Jung, deutscher Rechtsanwalt und Publizist in der Weimarer Republik,
faßte für die Ebene des Politischen diese Erkenntnis folgendermaßen zusammen:
"Es kann sonach eine Kultur nur bei Verwurzelung des Menschen im
Übersinnlichen entstehen, während in einer individualistischen Zeit (...)
dessen gesamte Bevölkerung in ihrer Masse vertiert. (...)"
Hingegen kann bei metaphysischer Verwurzelung der Tod "nicht mehr das Ende
allen Seelentums bedeuten, sondern nur den Abschnitt, nach dem das Leben wieder
in ein höheres einmündet." (Edgar J. Jung: Die Herrschaft der
Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung, Berlin, 1927, S. 26/33) Solche
Erkenntnisse sind umso wichtiger, als daß am 3. Mai 2007 das 200-jährige
Jubiläum der Einlieferung Hölderlins in den Tübinger Turm bisher kaum
Erwähnung fand und ein großes deutsches Schicksal somit trotz seiner
Beispielhaftigkeit für viele andere Menschen nahezu unerwähnt blieb.
Auch läßt sich der Ruf des Jesuiten und Widerständlers gegen den
Nationalsozialismus Alfred Delp 1945 vor seiner Hinrichtung in
Berlin-Plötzensee verstehen, als er rief: "In wenigen Sekunden bin ich
klüger als Sie." Leibesloslösung durch Tod allein führt also zur
direkten Erkenntnis. Auch die Verwirklichung des besten Staates bleibt bei
wahrlich oberflächlichen Menschen unmöglich, womit sich Sokrates’ Abneigung
gegenüber der Demokratie erklärt.
Kalweit stellt dem gegenüber bilanzierend Standesmerkmale des echten
Philosophen, des Erlesenen und von höherer Reflexionskultur geprägten Menschen
heraus: Das Staunen, in der Welt zu sein und der Wille, nötigenfalls den
Sterbenden nachzufolgen. Sein Buch eröffnet die Perspektive, daß der Tod für
den geneigten Menschen als "Wanderer zwischen beiden Welten" (Walter
Flex) in Gedanken abschafft und trotz irdischen Leidens die individuelle
Todeserfahrung erhellt werden kann. Also: Sterben will gelernt sein. Dieses Buch
verleiht Kraft dafür, denn die Antwort steht am Ende.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 23. September 2007 2007-09-23 11:10:44