Angesichts einer zunehmenden Standardisierung der Verhaltensweisen, einer
Verdrängung transzendenzbezogener Lebensweisen und der Erschleichung sozialer
Bindung durch strenge staatliche Bürokratien, was letztendlich die Reduktion
des Individuums-außerhalb-der-Welt zum immer nur suchenden
Individuum-in-der-Welt hervorbrachte, ist es nur eine Frage der Zeit, daß sich
alternative Lebensentwürfe entwickeln. Die Auseinandersetzung mit diesem
Zustand moderner Gesellschaften absolvierte Karl Jaspers (1883-1969) mit seinem
Ausdruck "Apparat", José Ortega y Gasset (1883-1955) mit dem Begriff
der "Massengesellschaft" oder Arnold Toynbee (1889-1975) mit dem
Terminus "ununterscheidbarer Zustand". Spengler nannte dieses Stadium
der Kultur "Zivilisation". Es gibt keine dem System und den in es
eingepaßten Menschen vorausgehende Gültigkeitsbasis mehr. Es fehlen, mit
Arnold Gehlen zu reden, die haltgebenden Prinzipien, die der Gefahr ausgeliefert
sind, "auf jenes Minimum an Außenbestätigung verzichten zu müssen, ohne
daß er [der Mensch, d. Verf.] auf die Dauer nicht leben kann." Es ist das
Industriesystem in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts - ein System aus zweiter
Hand, dessen naturwissenschaftlich-mechanistisches Denken die Verantwortung für
diese dialektische Reduzierung von Kultur zu tragen scheint.
Der soziale Typus des Dandys war seit jeher der individuelle Versuch Einzelner,
durch ihre oppositionelle Lebensweise in Kombination mit einem betriebenen
Selbstkult jene Verwerfungen der Außenwelt zu überwinden, um in ihr würdig zu
leben. In der umfangreichen Literatur zum Dandyismus gibt es wenige Texte, die
bis heute die Definitionsgrundlage bilden. Der wichtigste zur Theorie des
Dandyismus ist das Unterkapitel Der Dandy in der Studie über den Maler
Constantin Guys, die Charles Baudelaire 1863 verfasst hat. Bis heute
unübertroffen ist Der moderne Dandy. Ein Kulturproblem des 19. Jahrhunderts von
Otto Mann, der damit 1924 bei Karl Jaspers promovierte. Auch hier zeigt sich
Jaspers Sensibilität für Fragen der aristokratischen Großmütigkeit in Phasen
der "décadence".
Das nun im Böhlau-Verlag vorliegende Werk von Melanie Grundmann vereinigt zum
ersten Mal übersichtlich und gut lesbar originale Kerntexte zum Thema
"Dandyismus". Dazu zählen das "Tagebuch eines modernen
Dandy" von 1818, verfaßt im England unter George IV. Weiterhin findet der
Leser die Analyse "Der Mann von Welt" (1815) aus Frankreich, wo über
den Schriftsteller Stendhal alternierende Formen dandyistischer Lebenskunst
auftraten. So differiert beispielsweise der "Mann von Welt" vom
zurückgezogenen Dandy durch seine Position "an vorderster Stelle aller
Verrückten". Seine offensive und nicht zurückgezogene Haltung zeigt, wie
sehr sich ein sozialer Typus auch von verschiedenen sozialen und nationalen
Umfeldern beeinflussen läßt und seine Haltung verändert. Anhand der Texte
wird deutlich, daß es gleichsam eine von Land zu Land sowie Zeit zu Zeit
differierende Phänomenologie des dandyistischen Lebenskultes gibt. Diese hätte
man zwar in der Einleitung zum Buch tiefgründiger benennen können, sie
erschließt sich aber ansatzweise bei der Lektüre der Originaltexte beim
aufmerksamen Lesen von selbst.
Generell wird in fast jedem Beitrag deutlich, daß der Dandy in einer Reihe von
Sozialcharakteren hauptsächlich des 19. Jahrhunderts steht, die den
Utilitarismus der sich industrialisierenden und verbürgerlichenden Gesellschaft
ablehnten. Seine intellektuellen Bundesgenossen sind vor allen der Bohème und
der Flaneur. Mehr und mehr erschließen sich über die Kapitel hinweg trotz
variierender Grundmotive bei berühmten Dandys seine doch prägnanten
Grundeigenschaften: Perfekte Selbstbeherrschung; Kampf mit der Gesellschaft;
Kampf gegen die unästhetische Gegenwart; der Versuch, die eigene Anmut zu
verkleiden und zu inszenieren, um bemerkt zu werden. Zugleich aber drängt sich
immer wieder die stoische Gelassenheit des nil admirari, in den Mittelpunkt,
welche oft nur heroisch-oppositionelle Ausnahmemenschen aufzubringen in der Lage
sind.
Die bewaffnete Neutralität des Dandys beschreibt die Herausgeberin in ihrer
kulturgeschichtlich dennoch gelungenen Einleitung trefflich: "Er vermischt
sein distanziertes Auftreten so taktvoll mit Höflichkeit, dass sie an Ersterem
nichts aussetzen können und Letzteres nicht zu fassen bekommen." Wer dies
nicht schafft, gerät zum Snob. Dieser Typus ist nicht zum Dandy geboren,
möchte aber einer sein. Der Snob ist unvollendeter Nachahmer im Gewandt
lächerlicher Eitelkeit - wie auch die Snobs Nietzsches, Churchills, Spenglers
etc. Sie haben eben nicht formvollendet zu leben gelernt, was die Herausgeberin
Grundmann als konstitutives Merkmal des Dandys hingegen ausmacht: "Der
Dandy ist ein überlegener Geist, ein Genie, unerwünscht in einer Gesellschaft,
in der die Masse beherrschbar bleiben soll".
Das Buch ergänzt die Lektüre sinnvoll durch chronologisch enthaltene Bilder,
auf denen der englische Maler Christopher Clark (1875-1942) das optisch
Spezifische am jeweiligen Typus von Dandy, von politisch Apathischem und vom im
Zeitalter der "décadence" lebenden Außenseitertum in Abbildungen zu
fassen versucht. Die politische Apathie der Unpolitischen ist Konsequenz der in
diesem Buch beschrieben und überhaupt jeder wiederkehrenden Zeit des Umbruchs.
Sie ist Symbol einer real existenten und im Menschen reaktiv lebenden
Modifikation von Verfall. - Der Mensch findet eben immer wieder neue Formen, um
in der "diaphtora" würdig leben zu können.
Fazit
Eine vorteffliche und an Originaltexten orientierte Einführung zur Lebensweise
eines spannenden sozialen Charakters.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 19. September 2007 2007-09-19 11:32:22