Wer 13 Jahre alt ist, in Kingfisher Meadows, Black Swan Green, Worcestershire
wohnt und Schüler einer Gesamtschule ist, soll nur nicht wagen, Gedichte zu
schreiben. Und wenn er es trotzdem tut, darf er sie allerhöchstens im Dunkel
der Nacht unter einem Pseudonym absenden. Sein heimliches Leben als
Schriftsteller ist nicht Jasons einziges Problem. Der englische Schüler
schlägt sich mit alltäglichen pubertären Nöten herum und muss sich täglich
in die fein austarierte Hierarchie innerhalb seiner Schulklasse einklinken. Die
Grenzen zwischen akzeptiertem und "schwulem" Verhalten sind streng
gezogen. Wollmützen, auf deren Benutzung Mütter seit Generationen beharren
ohne Rücksicht auf das kindliche Ansehen in der Öffentlichkeit, sind
stockschwul. Bücher sind schwul, selbstverständlich das Fach Französisch und
das Schreiben von Geschichten sowieso. Was sonst noch täglich wechselnd für
schwul erklärt wird und welche geheime Bedeutung den Farben von
Kleidungsstücken zugeschrieben wird, erfährt Jason spätestens morgens auf dem
Schulflur. Seinen persönlichen Status kann jeder Schüler daran ablesen, ob er
mit einem Spitznamen gerufen wird, mit dem Familiennamen oder gar nicht. Ein
Vater, der im Supermarkt arbeitet, eine überbesorgte Mutter, die in den
höheren Regionen der Innenarchitektur schwebt, und seine kritische 18-jährige
Schwester Julia geben dem 13-jährigen Jason den Rest.
Jason laviert zwischen der kindlichen Welt geheimer Bandentreffen und
Klingelstreiche, seinen paranoiden Fantasien vom Tod durch Ertrinken und
Gedanken an die geheimnisvolle Spezies "Mädchen". Diese wenig
erforschte Art wirkt besonders rätselhaft, wenn sie in Gruppen auftritt. Ein
harter Kerl will Jason eindeutig nicht werden, egal was die anderen vorgeben -
doch was will er dann? Mit ausgeklügelten Strategien versucht Jason, die
Anfangsbuchstaben N und S zu vermeiden; denn er stottert in aufregenden
Situationen. Immer wenn mündliche Unterrichtsbeiträge gefragt sind, muss Jason
sich schnell entscheiden: widersprechen, stottern oder schweigen? Obwohl er ein
Meister messerscharfer Urteile ist, bringt Jason sich durch seine
Vermeidungsstrategien regelmäßig in verzwickte Situationen. Seit fünf Jahren
findet er sich zu regelmäßigen Terminen bei der Schul-Logopädin Mrs. de Roo
ein. Doch das Stottern sitzt Jason noch immer wie ein Henker im Nacken und
verfolgt ihn in seinen schlimmsten Alpträumen. Es gibt Dinge in Jasons Leben,
die verstehen nicht mal Logopäden, stellt er fest. Dass ein zukünftiger
Ex-Stotterer und Literatur-Liebhaber in der Schule übel gemobbt wird, wundert
nicht.
Als der 18-jährige Marine-Soldat Tom Jew, den alle in Kingfisher Meadow gut
kannten, im Falklandkrieg getötet wird, scheint das das Ende der nur
vordergründig heilen Welt der Jugendlichen zu sein. Im 13. Monat werden nach
einem ereignisreichen Jahr die einzelnen Fäden in Jasons Leben zusammen
geführt und alles wird sich ändern.
Fazit
David Mitchell hat mit Jason einen feinfühligen Jugendlichen in der Pubertät
dargestellt, der zu Beginn der 80er Jahre in der englischen Provinz aufwächst.
Mitchells Fabulierlust schwelgt in grotesken Szenen und wunderlichen Gestalten,
wie der alten Frau mit der Salbe oder dem geistig behinderten Squelch. Die
exzentrischen Namen seiner Figuren Mrs Throckmorton oder Madame van Crommelynck
muss man sich einfach auf der Zunge zergehen lassen. "Der dreizehnte
Monat" ist eine heiter-melancholische Entwicklungsgeschichte, an deren
Turbulenzen Jugendliche und Erwachsene Freude haben werden.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 18. September 2007 2007-09-18 20:07:41