Fortschritt und Rückschritt in der Geschichte
Der Niedergang der idealistischen Strömung im philosophischen aber auch
geschichtswissenschaftlichen Denken vollzog sich im 19. Jahrhundert schon kurz
nach dem Tode Hegels. Der Aufschwung der naturalistischen und
irrationalistischen Tendenzen im Denken, der Naturwissenschaft und des Primats
der Ökonomie setzte ein. Benedetto Croce (1866-1952) war italienischer
Philosoph und Politiker, der als Neubegründer des sehr auf die deutsche
Philosophie bedachten italienischen Neoidealismus. Er entwickelte vor allem von
Hegel beeinflußt eine Philosophie des "Absoluten Historismus (storicismo
assoluto)", die stark auf die Geschichtswissenschaften wirkte. Als
Mitarbeiter des "Devenir social", der Zeitschrift von Georges Sorel,
publizierte er viele Aufsätze zum Marxismus. 1907 veröffentlichte Croce sogar
die italienische Übersetzung von Hegels "Enzyklopädie".
In der vorliegenden Studie geht Domenico Conte, der sich durch seine Einführung
zum Werke Oswald Spenglers bereits vorher die deutsche Philosophie und ihr
Wirken in Italien zum Thema machte, auf das Denken Benedetto Croces umfassend
ein. Und während die Deutschen Wesen und Wert ihrer Philosophen, gerade die
Idealisten, oftmals zu verschmähen geneigt sind, zeigt Conte hier vortrefflich,
daß es wohl manchmal des Hinweises auf eine fruchtbringende ausländische
Rezeption deutscher Philosophie bedarf, um ihren Wert, ihre Praxisrelevanz in
neuem Lichte aufscheinen zu lassen. Croce selbst liebte Deutschland und mußte
sich in seiner Heimat oft den Vorwurf der "Germanophilie" aussetzen,
obwohl er in seinen Urteilen über deutsche Kultur eine wissenschaftliche
Strenge walten ließt, die sich beispielsweise über die hölderlinschen
Parallelismen zwischen Deutschland und dem alten Griechenland, zwischen Berlin
und Athen amüsierte. Daß es aber Hölderlin in seinem Geschichtsdenken
wesentlich immer auch um die Deutung menschlichen Schicksals, um geschichtliches
Denken als Schicksalsdenken geht, hat zuletzt der Sozialphilosoph Johannes
Heinrichs in seinem umfassenden und gattungstheoretischen Kommentar zum
hölderlinschen Hauptwerk "Hyperion" nachgewiesen. (Johannes
Heinrichs: Revolution aus Geist und Liebe. Hölderlins "Hyperion"
durchgehend kommentiert, 2007, S. 535) Croce hätte zumindest zum Ende seines
Wirkens, als er zunehmend von einer Tragik im Ablauf der Geschichte überzeugt
war, gerade bei Hölderlin ein auch ihm angemessenes Geschichtsdenken finden
können. Bei Croce gibt es also eine Menge Stoff zum Verständnis der eigenen
deutschen Philosophie zu entdecken. Nachdem Conte nun scharfsinnig die
philosophischen Elemente bei Croce darlegt, eine potentiell grausame Welt
zeichnet, eröffnet sich in seinem Buch als Fazit ein universalgeschichtlicher
Ausweg zu innovativeren und reflexionsstärkeren Denkprozessen - gerade im
Hinblick auf die deutsche Geschichte.
Conte verdeutlicht zunächst, daß Croce über Marx zu Hegel fand, den er in
seiner Weise interpretierte, nämlich den Kontrast zwischen Geist und Geschichte
sowie zwischen Idealismus und Historismus (74) betonte. Croce lehrte einen
Vierstufenbau des Geistes: Intuition, Begriff, wirtschaftliches und ethisches
Handeln. Jede dieser Stufen setzt die vorhergehende voraus. Bedeutsam ist es an
dieser Stelle, wie es Conte gelingt, diese vierfache Manifestation des
menschlichen Geistes bei Croce im Geschichtsdenken desselben zu beschreiben.
Dieser führte die vier Elemente auf alle menschlichen Aktivitäten zurück.
Geschichte tritt in den vier großen Gestalten des Dichters, des Philosophen,
des Politikers und des Heiligen auf. (43) Zugleich sieht Croce in ihnen die
Ausdrucksformen des Wahren, Schönen, Nützlichen und Vitalen. Es verwundert
hier nicht, daß Conte zudem auf Croces Rezeption Spenglers und Toynbees
eingeht. Der Autor tut dies, indem er betont, daß Croce die disziplinäre
Universalgeschichte und damit Spengler und Toynbee (30), das Untergangsdenken
und das Denken in historisch zu bewältigenden Herausforderungen
("challenges") reflektiert habe, um zugleich seine eigene Theorie
daraus zu entwickeln: Bei Spengler sei Geschichte ein kurzer Abschnitt des
Lebens einer großen Kultur bis zu ihrem natürlichen Verwelken. Bei Croce sei
aber die Natur selbst die Geschichte und so befürchtete er oft die
"Extremisierung des spenglerischen Diskurses" (197). Wo er hätte
Spengler aber zustimmen können, ist die spenglerische Haltung, in der
Weltgeschichte die Geschichte der menschlichen Seele zu sehen, was Croce nach
Conte auch getan habe. (92)
Die vierstufige Entwicklung des Geiste nach Croce entwickelt sich aber
"zirkulär (circolarmente)", wobei sich eine ständig anreichernde
Spiralentwicklung ergibt. Diesen Aspekt hat der Autor leider nicht genug
ausgeführt, hängt doch von Zirkularität, Rückkoppelung und kybernetischen
Ansprüchen in sozialen Systemen sowohl ein adäquates Geschichtsdenken wie bei
Croce als auch die Vitalität unserer heutigen Demokratien ab. Während nämlich
die Vierfachheit geistiger Struktur bei Croce auf das Geschichtsdenken Anwendung
findet, bezog der bereits benannte Sozialphilosoph Johannes Heinrichs diese im
Sinne seiner eigenen davon alternierenden Theorie der Viergliederung auf
Handlung und politisches System. Doch zurück zur Grundthese des
Geschichtsphilosophen aus Neapel.
Die Grundthese von Croces "Absolutem Historismus" ist, daß Leben und
Wirklichkeit nichts anderes als Geschichte sind. Von Hegel übernimmt Croce die
Identifizierung der Wirklichkeit mit dem Vernünftigen. Sein System vereinigt
beide Welten, denn hier ist Geschichte nicht ein Abbild des Seinsollenden,
sondern dieses selbst. Er vertritt also eine Form von Immanentismus, denn für
ihn gibt es nichts außerhalb der wirklichen Geschichte. Im Unterschied zu Hegel
vertritt Croce allerdings nicht eine "Dialektik der Gegensätze",
sondern den "Zusammenhang des Unterschiedenen (nesso dei distinti)".
So ist z.B. das Schöne nicht ohne das Häßliche denkbar. Leider geht Conte in
der vorliegenden Studie nur kurz auf diese gelebte Dialektik des Denkens ein. Er
betont, daß bei Croce der Geist erkranken könne, weswegen Croce eine
"Pathologie des Geistes" (164) kannte, die er zugleich als die
Pathologie der Gegenwart ausmachte: willensschwache Menschen sind auf Lust und
Vorteile bedacht. Für Croce bedeutete das ein Ende der Kultur auf der Stufe des
utilitaristischen Wollens. Dennoch gibt Conte zu bedenken: Die Integration des
Bösen sei bei Croce wichtig, denn gerade davon ernähre sich der Geist, ohne
Sklave des Bösen zu werden. (167) Hier gelingt es dem Autor dennoch trefflich,
diese zunächst "unlogische" Gegensätzlichkeit in Croces eigenem
Sinne und damit als integral gelebte Lebenspraxis darzustellen.
Zum Abschluß geht Conte erfreulicherweise auf die Bedeutung des
Nationalsozialismus für Deutschland ein. Wir gelangen damit an den bereits
erwähnten innovativen Denkprozeß, den sowohl die Lektüre Croces als auch der
hier vorliegenden Studie zu ihm einleiten kann. Diese Stelle des Buches ist
besonders zu empfehlen, da sich hier geschichtsphilosophisch jene recht
nüchterne Perspektive auftut, den Nationalsozialismus im Sinne eines reifen
Denkens und nicht eines hysterischen Moralisierens sowohl zu beurteilen, als
auch den inflationär instrumentalisierten Begriff "Faschismus" von
ihm abzusetzen. Der Nationalsozialismus galt Croce als zunächst
lebensdienlicher "Ausbruch aus einer furchtbaren jahrhundertealten Krise in
Deutschland", während der Faschismus eine Art Überfruchtung war, eine
Erscheinung, die Italien eigentlich fremd blieb. (219) Zudem sei auch das
Bösartige, das Dämonische, welches es bekanntlich nach Croce zu integrieren
gelte, um sich erst damit von ihm abzusetzen, niemals eine Charaktereigenschaft
der Deutschen gewesen, sondern eine der Moderne in ihrer Gesamtheit überhaupt.
Hitler stecke in jedem Menschen (233), und Deutschland habe eine Krankheit aller
Völker lediglich entschieden ausgetragen - in qualvollster Form.
Womöglich ist dem Autoren nicht bewußt, daß er damit eine perspektivisch neue
Diskussionsgrundlage für die aktuelle deutsche Geschichtswissenschaft bietet,
welche im Sinne eines permanenten Nicht-Vergessen-Könnens des Jahres 1933 unser
Handeln und Denken über Deutschland aus der Perspektive eines Wissens
unsachgemäß beeinflußt, das die Menschen 1933 noch nicht haben konnten.
Ideologisches Drohen also, anstelle eines solchen sinnvollen Reflektierens
historischer Phänomene (Phänomenologie), welches durchaus im dialektischen
Sinne Croces Geschichte bewahren kann und zugleich potentiell zu vergessen in
der Lage ist. Conte nämlich geht noch weiter: Bei Croce sei Vergessen kein
Auslöschen von notwendiger Erinnerung. Was man vergißt, verschwindet nicht,
sondern kreist weiterhin im Ganzen, bleibt präsent. (107) Nur wer zwecks
selbstbewußen Agierens als Mensch das Böse vergißt, kann es zugleich in sich
auch anerkennen. Wichtige Bemerkungen Contes zur Croce-Rezeption des
Nationalsozialismus betreffen auch das Judentum.
Nachdem die deutsche historische Tradition mit dem neoromantischen Dekadentismus
verschmolzen sei - so schrieb Croce - sei daraus der Rassismus entstanden als
neue zoologische Version der Auserwähltheit eines Volkes, das sich nicht im
Kontakt mit den Unreinen beschmutzen möchte. Dies aber - so betonte Croce immer
wieder - stelle einen starken Schnittpunkt mit dem Judentum dar. Diese
Auffassung sei streng jüdisch. (222) Das vorliegende Buch über Croce regt
damit zugleich zu einer konstruktiven Neureflexion des deutsch-jüdischen
Verhältnisses zunächst in der Vergangenheit und damit auch für die Gegenwart
an. Es zeigt über den Mittler Croce an, welche nationalsozialistischen Elemente
selbst jüdischen Ursprungs sind. Es gibt keine Alleinschuldigen, keine
Bösartigen an sich, sondern nur die Gesamtheit menschlicher Geschichte als
Phänomen. Mit dieser Dimension eines 2007 mehr denn je wünschenswerten neuen
Denkens, eines neuen Reflektierens und eines konstruktiven Relativierens nicht
im Sinne von Auslöschen sondern im Sinne von verborgener Erinnerung für ein
neues Selbstbewußtsein im deutschen Denken bietet Croce eine neue
geschichtspolitische Dimension für die Deutschen an. Geschichte war für ihn
immer perspektivischen, situativ, subjektivistisch, und damit niemals an sich
wiederholbar und erst recht nicht aus der Gegenwart heraus einfach zu
beurteilen. (41) Womöglich trüge ein solcher Weg neuerer
Reflexionsbereitschaft zur Beseitigung der selbst von Croce schon erkannten
"geistige[n] Disharmonie der Deutschen" (224) bei, die heute wieder
Johannes Heinrichs in seinem Hölderlin-Buch zu überwinden anmahnte: Die
Zerrissenheit könne nur geheilt werden, "durch eine ganze statt einer
halben Durchführung des Reflexionsprinzips in Theorie und Praxis". (Ebd.,
S. 540)
Findet dies nicht statt, steigert sich erneut - mit Croce zu sprechen -
Vitalität innerhalb der Epoche des Niedergangs zur Animalität, zum Töten zum
utilitaristischen Streben nach Macht und Genuß. Es wird nun klar, wieso Croce
zum Ende seines Lebens die Idee der Tragik in der Geschichte aufkam. Sie macht
ihn zwar zum Vermittler zwischen Hegel (Progressismus) und Spengler
(Dekadentismus), zeigt aber immer wieder die ablaufende Alternanz von Kultur und
Dekadenz, den Rhythmus von Leben und Tod an, den womöglich nur der gelebte und
beide Seiten anerkennende selbstbewußte Integralismus zu bewältigen in der
Lage ist.
Fazit
In der vorliegenden Studie geht Domenico Conte auf das Denken Croces umfassend
ein. Und während die Deutschen das Wesen ihrer Philosophen oftmals zu
verschmähen geneigt sind, zeigt Conte hier vortrefflich, daß es wohl manchmal
des Hinweises auf eine fruchtbringende ausländische Rezeption deutscher
Philosophie bedarf, um ihren Wert, ihre Praxisrelevanz in neuem Lichte
aufscheinen zu lassen.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 05. August 2007 2007-08-05 13:50:24