Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis
Das Eigene, das Subjektive, das Ich ist in der traditionellen deutschen
Philosophie zunächst immer unabhängig von der wahrgenommen Objektivität.
Dieser Umstand veranlaßte Kant dazu, zu meinen, daß durch ein Subjekt in
seiner Abgeschiedenheit von der Objektivität niemals die Wahrheit erkannt
werden kann. Vielmehr kann infolge der Vermittlung durch die Sinnesorgane als
Mediatoren nur ein bewußtseinsimmanenter Widerspruch zur Objektivität
wahrgenommen werden. Es gibt kein Ding an sich. Das Bewußtsein eines Dinges
außer mir ist absolut nichts weiter, als ein Modus meines eigenen
Vorstellungsvermögens und meiner Gedanken, die nur ich beim Betrachten eines
Dinges habe. Wenn der Tisch sich bewegt, hin und her schwingt, so tut er dies,
weil mir selbst gerade schwindlig ist und ich den Tisch in meinem Gehirn als
sich Bewegender vorgesetzt bekomme.
Ich selbst bin also der Initiator meiner Seins-Realität. Sie ist räumlich und
zeitlich immer gleich, auch wenn mir im Tode mein Sein als solches der
Wahrnehmung zu entfallen scheint. Mein Sein ist also ein Moment der Dauer, mit
mir selbst gleich zu sein, sich abzuheben vom Anderen, als Nation oder als Volk.
Das Nichts ist dabei z.B. für Hegel ebenso existent wie das Sein. Es hat
dieselben Bedeutungsqualitäten wie das Sein, und es ist auf derselben Ebene
existent, kein Gegensatz, denn das Sein ist ja nur durch das Nichts vorhanden.
Allein in meiner eigenen Wahrnehmung existiert der Unterschied zwischen Leben
und Tod. Damit existiert allein in meiner Wahrnehmung die Disposition dazu, den
Tod und das Leben zugleich zu besitzen, zu erfahren. Sterben tue ich nur für
die Anderen.
Um die Upanishaden zu verstehen, gilt es, diese soeben in Kürze abgehandelten
Fragen zum Sein und Nicht-Sein, wie sie oft gerade den deutschen Sprachraum
prägten, voranzuschicken, denn Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis und als
Erkenntnis des Ewigen im Menschen selbst, der Leben und Tod transzendieren kann,
sind immer auch zugleich Kern des Anliegens der upanischadischen Schriften.
Diese bestehen aus Entsprechungen und Wechselbeziehungen zwischen Kosmos,
menschlichem Körper und Geist, zwischen Makro- und Mikrokosmos - bis hin zu den
höchsten Entsprechungen. Da die Upanishaden die europäische Geistesgeschichte
eminent beeinflußten und textgeschichtlich vorher aus den Brahmanas
(Ritualtexten) in Fernost hervorgingen, ist es umso erfreulicher, nunmehr wieder
die vorliegende meisterhafte deutsche Übersetzung derselben von Paul Deussen in
neuer nahezu unveränderter Edition vorliegen zu haben. Sie sind im Marix-Verlag
herausgegeben und eingeleitet von Peter Michel und stellen mit ihren 1088 Seiten
nicht nur ein umfassendes Lektüreerlebnis dar, dem jeder etwas abgewinnen kann,
wenn er richtig sucht, sondern bieten zudem auch Hinweise zur
Sanskrit-Literation und zur Aussprache der charakteristischen Wörter dieser
fernöstlichen Weisheitslehre.
Wörtlich bedeutet "Upanishaden" das
"Sich-in-der-Nähe-Niedersetzen" und meint damit ein "sich zu
Füßen eines Lehrers (Guru) setzen". Die vorliegende Sammlung
philosophischer Schriften des Hinduismus sind Bestandteil des Veda und lassen
sich auf 2000-1500 Jahre v. Chr. datieren. Die vedische Offenbarung betont im
Rahmen der indischer Auffassung, daß die Dinge nur deshalb existieren, weil sie
in den Veden sind, denn diese weisen keinen Verfasser auf und haben eine
zeitlose Gültigkeit. Bei unvoreingenommener Lektüre wird dem Leser deshalb
auch deutlich, daß die upanischadische Erfahrung weniger etwas mit Religion zu
tun und auch weniger etwas mit Logik und Erkenntnistheorie, sondern vielmehr
gehört sie einer anderen Ordnung an, einer überhistorischen Dimension, die
aufzeigt, welchen fortschreitenden Weg zur Weisheit eine bewußt erkannte
menschliche und gelebte Erfahrung machen kann. Dies dient der Entdeckung des
letzten Grundes des Seins und des Selbst. Dieser ist - so die Upanishaden - für
alle erreichbar. Jeder solle zudem seinen eigenen Weg finden - auch hier
offenbart sich ein entdogmatisierter im bisherigen Verständnis von Religion
eigentlich nichtreligiöser Anspruch. Dieser ist niemals rein intellektuell
verständlich, sondern agiert transrational, aber nicht irrational.
Die Upanishaden beschäftigen sich also mit dem Wesen von Brahman, der
universellen Weltenseele, von der Atman eine Reflexion in jedem Wesen ist, die
innerste Essenz eines jeden Individuums. Die Überlegenheit des Geistes über
die Materie ist dabei das treibende Kern-Axiom. Brahman - und damit auch Atman -
ist unvergänglich, unsterblich, unendlich, ewig, rein, unberührt von äußeren
Veränderungen, ohne Anfang, ohne Ende, unbegrenzt durch Zeit, Raum und
Kausalität, ist reines Sat-Chit-Ananda (Sac-Cid-Ananda), reines Sein, Existenz
an sich. Der zentrale Zielpunkt ist die Nicht-Zweiheit (A-dvaita) - die nicht
dualistische Wirklichkeit, die automatisch die uralte philosophische Frage nach
Transzendenz und Immanenz sowie ihrer Einheit, der Einheit zwischen Mensch und
Gott, der potentiellen Göttlichkeit des Menschen aufwirft, ohne freilich damit
die spinozistische Einmündung in einen Pantheismus vorzunehmen.
Die Erleuchtungserfahrung ist die pure Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis,
denn Erkenntnis ist Bewußtsein und dieses identifiziert sein Selbst mit allen
anderen Selbsten. Es betrachtet den Stoff, der mit jedem Selbst verbunden ist,
auch als das Nicht-Selbst. Das Bewußtsein kennt sich selbst und die anderen -
und geht darüber hinaus: Am Ende sieht es die anderen als sich selbst.
Erkenner, Erkennen und Erkenntnis sind eines. "Ich bin ich" bedeutet
dann auf dieser Stufe höherer Erkenntnis: "Ich bin er oder es". Der
Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) - hier die Parallelität zur deutschen
Geistesgeschichte - empfand deshalb die Upanishaden als "belohnendste und
erhebendste Lektüre, die [...] auf der Welt möglich ist: Sie ist der Trost
meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein." Und in der Tat,
seine Metaphysik proklamiert, daß der Mensch allein ruhiges Subjekt des
Erkennens, alleinige Bedingung allen Objekts und Träger seiner Welt ist, die in
gewisser Weise nur durch ihn ist, denn sie ist seine Vorstellung. Alle
Geschehnisse der Welt sind für Schopenhauer nur unsere Vorstellungen,
Modifikationen des ewigen Subjektes. Und so erklärt sich, wie Schopenhauer aus
seinem zunächst cholerischen Wesen im hohen Alter die reflektierte Gelassenheit
eines Philosophen erwarb, der ahnte, daß seine zunächst verschmähte
Philosophie bald Erfolg haben würde: Nach seiner Erkenntnis ruht die Größe
der Welt in uns selbst - man wird eines mit ihr und gewinnt einen ausgelassenen
Charakter.
Die Upanishaden der Veden haben dieses gefühlte Bewußtsein immer wieder
ausgesprochen. Mit Schopenhauers angewandten Worten: Alle anderen Geschöpfe
insgesamt bin ich, und außer mir ist kein anderes Wesen da. So schreibt er in
seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung". (1819/1844)
Seine Mitleidesethik sieht sogar den Unterschied zwischen mir und dem anderen
aufgehoben, was zur Teilnahme am Leiden des Anderen führe und mich davon
abhalte, andere zu verletzten, nicht weil ich mitleidend bin, sondern weil ich
selbst der Andere bin. Kein kantischer Imperativ also kann für Schopenhauer
Mitleid erwecken, sondern nur das In-der-Haut-des-Anderen-Stecken als moralische
Triebfeder. Und so bietet Schopenhauer eine der fruchtbarsten
Upanishaden-Rezeptionen für Deutschland, wie sie auch Sri Aurobindo in der
jüngsten Gegenwart versuchte. Er vereinte östliches und westliches Gedankengut
auf höherer Ebene: Der innere Mensch ist unsterblich; Tod bedeutet Übergang
auf höhere Daseinsebenen; der Fortschritt der Menschheit folgt einem
göttlichen Entwicklungsplan, bei denen die hoch entwickelten
"Meister" ("Übermenschen") eine wesentliche Rolle spielen.
Den Benediktinern hingegen lag viel am Dialog zwischen Vedanta und Christentum,
denn auch Jesus habe die Erfahrung der Nichtdualität mit dem Vater gelebt. Es
ist also erstaunlich, wie viele Denker auf welche Weise das im vorliegenden Band
dargebotene Wissen der Upanishaden reflektierten und für sich praxisrelevant
machten.
Eine zentrale Stelle, die dieses Wissen ausdrückt, ist die folgende:
"Brahman, die universale Essenz, ist das Allem innewohnende Selbst. Es ist
wahrlich die Wirklichkeit von Leben und Erleuchtung. Wenn der Mensch Brahman
erkennt, wird er erleuchtet. Es gibt keinen Weiseren als den, der die innere
Göttlichkeit erkannt hat. Er verrichtet alle täglichen Arbeiten als Ausdruck
seines göttlichen Selbst. [...] Er ist [...] der Weiseste unter den weisen
Menschen." (Hier S. 661 ff., Mundaka-Upanishad).
Die Lektüre der Upanischaden ist deshalb trotz ihres Umfanges zu bewältigen,
da die vorliegende Ausgabe im Anhang die wichtigsten Vokabeln zum Verständnis
aller Zusammenhänge ausführt. Es liegt damit eine der schönsten Leistung
asiatischer aber auch europäischer Spiritualität vor, die seit jeher immer
schon philosophischen Anklang in Deutschland hatte. Möge der geneigte Leser
angesichts mit der Lektüre fortschreitender Selbsterkenntnis - so ja auch die
Forderung der Upanishaden - selbst seine im Alltag nur ihm eigene und angewandte
Praxis ähnlich wie Schopenhauer finden. Dieser schrieb noch mit viel Ironie:
"Du bist am Ende - WAS DU BIST.
Setz’ dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken:
DU BLEIBST DOCH IMMER WAS DU BIST."
Fazit
Zur Aneignung des Weges hin zur Selbsterkenntnis ein beeindruckendes Werk.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 15. Juli 2007 2007-07-15 17:14:20