Der Reiz des Außenseiters liegt in seinem Exotismus, der ihn zu einem
gefährlichen und zugleich anziehenden Wesen macht. Er weiß heute, im Zeitalter
permanenten Produktivitätszwanges und der Reproduktion immergleicher
denkerischer Konfigurationen in Politik, Kultur und Kunst, daß es Symbol des
menschlichen und damit geistigen Fleißes ist, aus Geld nicht immer wieder mehr
Geld machen zu wollen, weil der wahre Wert in dem liegt, was selten geworden
ist: Stille, Lust zur Nonkonformität, die Muße im Studium, der Genuß von
großen geistigen und künstlerischen Werken.
Und so, im Zeitalter der höchsten Konsumformen, der unverbindlich
"ästhetischen" Bildungs- und Anregungsinteressen oder des
Vergnügens, in diesem Zeitalter, in dem Phrasen des allgemeinen öffentlichen
Jargons abrufbereit sind und jeder mit kleinem Standardvokabular schnell
mitreden zu können meint, gilt das, was Henri Bergson (1859-1941) beschreibt:
Das Rennen nach dem Wohlleben ist in immer schnellerem Tempo vor sich gegangen
auf einer Rennbahn, zu der sich immer dichtere Massen hindrängen. (Henri
Bergson, Die Quellen der Moral und der Religion, S. 298)
Jene Pleonexie, jene Begehrlichkeit, Anmaßung, Hybris und Herrschsucht ist
Vorzeichen für die Entartung mit der Folge, daß auch bald die Kultur und das
Kunstwerk zu wachsen und in ihrem Zauber wahrnehmbar zu bleiben aufhören. Es
entsteht ein Haufen zusammenhangsloser Einzelner, die nur noch künstlich durch
Überlieferungen und Reproduktionen des Schönen und durch simulierte Ästhetik
zusammengehalten werden.
Walter Benjamin (1892-1940) als deutscher Philosoph und Gesellschaftstheoretiker
verbrachte seine philosophischen Lehrjahre mit dem Studium Kants und des
Neukantianismus sowie intensiver Beschäftigung mit der Literatur der deutschen
Romantik. Neben Oswald Spengler, José Ortega y Gasset oder Gustave Le Bon kann
er als jemand gelten, der zuerst auf soeben erwähnte Tendenzen speziell im
Hinblick auf die Auswirkungen der "Vermassung" auf die Kunst
aufmerksam machte. Das Spezifische seiner Philosophie, die Insistenz auf dem
einzelnen Daseienden und seines Kampfes, der sich gegen die Hegemonie des
Allgemeinbegriffs der Masse richtete, um dem Wesentlichen gegenüber dem
Unwesentlichen zu dienen, äußerte sich schon im autobiographischen Buch
"Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" (1950).
In den Kunstwerken sieht Benjamin später Wahrheitsgehalt und Sachgehalt
miteinander verbunden. Er sieht in ihnen den verorteten Moment künstlerischer
Entfaltung des Einzelnen im Jetzt und im Hier. Wahrheit gelangt dadurch zur
Erscheinung. Benjamin versteht diesen Prozeß als "Aura" von
Kultwerten in der Kunst und konstatiert analog zur Tendenz der entgrenzten
Vermassung und zur Standardisierung von Haltungen, Meinungen und Moden einen
fortschreitenden Verfall des Auratischen, mit dem die Kunst in den Dienst einer
materialistischen Entmythologisierung eintritt und unmittelbar eine Funktion im
Emanzipationskampf der Gesellschaft übernimmt.
Benjamins Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit" (193571936) ist zentraler Ausdruck dieser Philosophie.
Die Neuausgabe des Textes, die zugleich die Reihe "Studienbibliothek"
im Suhrkamp Verlag eröffnet, gibt diesen Text in mit Erläuterungen versehener
Form neu heraus. Die beigefügten Briefe, die von der
Veröffentlichungsgeschichte und der vorhergehenden Korrespondenz Benjamins mit
Vertretern des Instituts für Sozialforschung berichten, beschreiben zudem, wie
Einleitung und Nachwort (erstes und letztes Kapitel) des benjaminschen Textes
vom Institut für Sozialforschung unter Adorno und Horkheimer gestrichen wurden,
um politische Stellungnahmen, die man hätte dem Institut anlasten können,
präventiv zu vermeiden. Benjamins Briefe sprechen von seiner verzweifelten
Enttäuschung über diese Art von Zensur jener Leute, die später wiederum im
Frankfurt der Bundesrepublik Herausgeber seiner Schriften werden sollten.
Dennoch zeigt sich in der nun wieder lesbaren Studie, daß für Benjamin der
Begriff des "Auratischen" von nicht zu unterschätzender Bedeutung
war. "Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen -
(...) - Reproduzierbarkeit. (13) Das Auratische setzt er hier gleich mit dem
Eindruck der Echtheit, den der Betrachter eines Kunstwerkes hat. Benjamins
Studie liest sich damit auch als Ergebnis eines des ersten Versuches,
Kulturkritik in der Kunst zu üben. Er bilanziert: "...was im Zeitalter der
technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes verkümmert, das ist seine
Aura." (14) Und gerade diese Reproduzierbarkeit des einst unikaten
Kunstwerkes ist Parallelerscheinung der Senkung des Kulturniveaus der Massen,
einhergehend mit der Industrialisierung und Kommerzialisierung aller geistigen
und kulturellen Produktionszweige, was zur geistigen Infantilisierung und
Geschmacksverrohung führt. Benjamin selbst spricht - als antizipiere er die
späteren Verwerfungen des einst bundesdeutschen und nicht mehr vorhandenen
"Wirtschaftswunders" - von der "zunehmende[n] Proleatrisierung
der heutigen Menschen". (47)
Wer hier nicht von Benjamin weiß, würde diese Haltung wohl eher einem Oswald
Spengler, Hans Freyer, Arthur Moeller van den Bruck, Carl Schmitt oder anderen
Vertretern der Geistesströmung der "Konservativen Revolution" der
20er Jahre zuordnen.
Daß die Beziehung, welche Benjamin sogar zu zentralen Vertretern der
"Konservativen Revolution" pflegte, in diesem Buch und im beigefügten
ausführlichen Kommentar von Detlev Schöttker nicht erwähnt wird, kann als
großes Defizit gelten. Der Leser hat vor diesem Hintergrund und bei Betrachtung
aller in diesem Buch enthaltenen Kommentare den Eindruck, als ginge es vorrangig
um eine Huldigung gegenüber der Frankfurter Schule, dem Institut für
Sozialforschung in Frankfurt oder um einen Lob an Adorno, der die Schriften
Benjamins posthum fleißig ordnete und herausbrachte.
Und so geht dann auch ein wichtiger Zusammenhang verloren: Die eminente
Bedeutung des auch schon in Ernst Jüngers "Der Waldgang" (1951)
vorweggestellten konservativ-anarchischen Diktums vom "Jetzt und Hier"
und sein Bezug auf die Kunst und das Kunstwerk bleiben unerörtert. Gerade hier
aktualisiert sich nämlich der Bereich der Tradition und das Element des
Konservativen bei Walter Benjamin, der dieses Element übertragen auf die Kunst
als ein einmaliges Dasein des Kunstwerkes aber auch des Menschen überhaupt an
dem Orte, an dem es oder er sich befindet, verstand - gewachsen und nur dort
hingehörig, jenseits einer globalen Universalisierbarkeit.
Kunstwerke haben vor diesem Hintergrund für ihn eine transzendente Wirkung: Sie
repräsentieren innerhalb ihrer Aura ein nicht reproduzierbares "Hier und
Jetzt". Damit kämpfte Benjamin gegen die Strömung der Entortung, der
Entfremdung des Menschen von seiner Heimat zur Wahrung des ureigenen
"Nomos", um wiederum Carl Schmitt sprechen zu lassen. Carl Schmitt
nämlich definierte Repräsentation folgendermaßen: "Repräsentation ist
kein normativer Vorgang, kein Verfahren, keine Prozedur, sondern etwas
Existentielles. Repräsentieren heißt, ein unsichtbares sein durch ein
offiziell anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen." (Carl
Schmitt, Verfassungslehre, 1965, S. 208)
Zwar weist Schöttker darauf hin, daß Benjamin den Begriff der Ästhetisierung
des Politischen durchaus von Carl Schmitt übernommen habe und auf den
Faschismus übertrug (155). Der Leser findet aber keinen bei Benjamin durchaus
findbar gewesenen Hinweis auf den konservativen und existentiellen Begriff der
"Verortung", des "Nomos", des "Eigenen". Allein,
ohne ihn ist offenbar auch Benjamins Kunstwerk-Begriff, die Vergegenwärtigung
des Kunstwerkes im Moment der Betrachtung und unabhängig von seiner
profitversprechenden Vervielfältigung, nicht umfassend zu verstehen. Der
Politikwissenschaftler Hans-Dietrich Sander aber stellte schon 1988 fest:
"Walter Benjamin hat, anders als die Protagonisten der Frankfurter Schule,
sein ganzes Leben hindurch gegen die entortende Strömung angekämpft, von der
er sich ergriffen fühlte. Seine ‚Berliner Kindheit um Neunzehnhundert’
kreist traumwandlerisch um das ‚Gesetz des Ortes’. Die vierfältige
Identitätskrise ist das Ergebnis gescheiterter Ortungen. Benjamin versuchte,
seinen Geist jüdisch, deutsch, französisch und kommunistisch zu verorten.
(Hans-Dietrich Sander: Die Auflösung aller Dinge. Zur geschichtlichen Lage des
Judentums in den Metamorphosen der Moderne, Castel del Monte, München, 1988, S.
66.)
Benjamin verwendet den Begriff des Ortes also bewußt und ist ausdrücklich von
Schmitt beeinflußt. Der vorliegende Essay kann auch als Zeugnis dieses
Sachverhaltes gelesen werden. Auch in den anhängenden und zahlreichen Briefen
zwischen Benjamin und Adorno ist nicht erwähnt, daß es vom 9.12.1930 einen
Brief Benjamins an Carl Schmitt gab - der Abdruck wäre sensationell gewesen -
den Adorno aber aus seiner Erstausgabe benjaminscher Schriften unter Tilgung
aller Verweise auf Schmitt strich. (Vgl. Sander, ebd. S. 62, FN 15) Das Streben
nach sinngebender Verortung von Menschen und Kunst innerhalb eines Volkes oder
Kulturkreises gehört offenbar nicht zu den Dogmen der Frankfurter Schule, die
sich mit der Herausgabe benjaminscher Schriften diesen Philosophen gleichsam
vollends aneignete und Mißliebigkeiten "herrschaftsfrei" ausmerzte.
Erstaunlich analog dazu schrieb auch der konservative Rechtsanwalt Edgar J.
Jung: "Ein gesunder Lehrplan soll echtes Kulturgut vermitteln, des Gefühl
des eigenen Bodens, eigenes Volkstum und eigene Geschichte stärken und eine
eigene Marschrichtung für das Leben aufzeigen. Er soll stärkend auf die junge
Seele wirken. (...) Es werden wieder echte Lehrmeister erstehen, die dankbar
sind, dass sie einen göttlichen Keim in eine junge Menschenbrust versenken
durften." (Edgar J. Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall
und ihre Ablösung, Berlin, 1927, S. 224) Und wenn Benjamin schrieb: "Die
technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes verändert das Verhältnis der
Masse zur Kunst." (37), dann meinte er durchaus die von den Massen
forcierte Gefahr der Ablösung der Bedeutung des Kunstwerkes von seinen Machern,
vom Eigenen, von dem nicht reproduzierbaren "Auratischen".
Die Fähigkeit zum kritischen Vernunfturteil jenseits des produktiven
"Gebrauchs" von Kunst geht nämlich damit verloren, und es findet eine
Rückkehr zum primitiven Stadium der geistigen Entwicklung statt: gesteigerte
Affektivität und Reizbarkeit, Identifizierung mit dem Ich-Ideal,
Leichtgläubigkeit, selektive Informationsweitergabe, Leichtigkeit, Wellen der
Begeisterung, Wut und Hass.
Womöglich liegt die Ursache derartigen selektiv operierenden Vorgehens beim
Herausgeber dieser Schrift darin, daß selektive Wahrnehmung sich einen
"Adorno" oder "Benjamin" zurechtbastelte. Und so hätte
Benjamin wahrscheinlich auch der Haltung zugestimmt, daß diese Welt der sich
hegemonial multiplizierenden Mode die Welt des korrumpierbaren Scheins ist, der
auch, wie dem Kunstwerk, das Ursprüngliche als Ausdruck des Auratischen fehlt.
Ähnlich konstatierte Hendrik de Man dazu 1951: "Die Logik des Prozesses
ist unerbittlich: Das Individuum wird durch die Auflösung von Stil und
Tradition isoliert, durch die Überwindung von Raum und Zeit irre gemacht. Der
Einzelne ist ohnmächtig, die überwundenen Werte durch andere zu ersetzen. Er
muss das Werk der Zergliederung fortsetzen, um sich auszudrücken, bis er sich
selber in seine Bestandteile auflöst. Zuletzt bleibt ein einziges Residuum. Es
ist die unterbewußte Seelenschicht des infantilen Zustandes, der Träume."
(Hendrik de Man: Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit, 1951,
S. 127)
Walter Benjamins Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit" ist einer der bedeutendsten Texte über die
Veränderung der Kunst im technischen Zeitalter. Darüber hinaus ist er eine
wirksame Kritik der Moderne, die sich die Herausgeber selbst zueigen hätten
machen sollen. Diese neue Auflage des Buches im Suhrkamp-Verlag ist
begrüßenswert, jedoch hätte die darin enthaltene Rezeptionsgeschichte um
wesentliche Neuerkenntnisse ergänzt werden müssen, die dem eigentlichen
Verständnis Benjamins und seines Essays - wie einst noch befürchtet -
keineswegs hinderlich sind.
Daniel Bigalke, Dipl.-Pol.
Fazit
Die Neuausgabe des Textes von Walter Benjamin ist erfreulich. Die begefügte
Rezeptionsgeschichte allerdings läßt zu wünschen übrig.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 23. Juni 2007 2007-06-23 17:24:56