Egon Bahr, ostpolitischer Architekt und Berater Willy Brandts, hat erneut ein
Buch vorgelegt, in welchem er die offensive Wahrnehmung deutscher Interessen
verlangt. Eine Wahrnehmung solcher Interessen sei natürlich und normal. Bahrs
Hauptthese besteht darin, dass er einen eigenen europäischen und deutschen Weg
gegenüber einem sich hegemonial gebenden Amerikas fordert. Im Gegensatz zu
anderen politischen Publikationen hält er das Streben Amerikas nach
hegemonialer Führung jedoch für legitim im Sinne amerikanischen Interesses.
Zum ersten Mal habe man es mit einer Weltmacht zu tun, die alle Voraussetzungen
zu einer selektiven Weltherrschaft erfülle (S. 50). So kontinuierlich alle
Präsidenten vor George W. Bush den Kurs der Machterweiterung gefolgt seien, so
würden alle Präsidenten, die ihm folgten, diese Grundlinie fortsetzen.
"Auf diese Wahrscheinlichkeit kann man bauen; denn sie ist
natürlich."(S.71). Antiamerikanismus sei deshalb dumm (S. 76). Laut Bahr
muss Europa - einschließlich Osteuropas - sich zusammenschließen, um
"regierbar" zu werden und zu einem zivilisierten Gegenmodell Amerikas
zu werden. Amerika als Grossmacht sei bestrebt, viele an sich zu binden, ohne
sich selbst gleichermaßen binden zu lassen "Um ihre Handlungsfähigkeit zu
vergrößern, entzieht sie sich lästigen Verpflichtungen oder geht sie erst gar
nicht ein. " (S. 74). Das europäische Modell müsse sich strikt an das
Völkerrecht halten, Konflikte friedlich regeln und Kompromisse und
Kooperationen suchen. "Sind das nicht die Grundlagen für das Zusammenleben
und Zusammenwirken in einer multipolaren Welt? Bestimmt eröffnen diese
Prinzipien einen menschenfreundlicheren Weg in die Zukunft als das Dominieren
durch die Macht der Waffen. Das Modell, das die EU der Welt bietet, ist
jedenfalls ganz unverwchselbar und gar nicht bedrohlich. Seine militärische
Schwäche ist politisch seine Stärke." (S.96). Für den Schwachen gibt es
keinen anderen Weg als den, das Gesetz an Stelle der Gewalt zu setzen."
(S.105). Bahr fordert folglich die Selbstbestimmung der Europäischen Union im
Verhältnis zu Amerika. "Ein selbstbestimmtes Europa wird für die USA
unbequemer, aber wertvoller. Die Arbeitsteilung ist durch die Unterschiede der
Stärke, der Fähigkeiten, der Ansprüche und der Interessen beding. Europa und
Amerika ergänzen sich." (S.134). Auch Europa müsse als Alternative zu den
USA eigene europäische Streitkräfte schaffen, die im Auftrag der UNO oder im
Einverständnis mit den Betroffenen weltweit einzusetzen seien. Hier sei auch
Deutschland gefordert, einen deutschen Weg zu gehen, der normal sei. Normal sei,
dass jeder Staat seine Interessen vertrete und versuche, seine Ziele
durchzusetzen, ohne sich von seiner Vergangenheit lähmen zu lassen. Deutschland
solle insbesondere dazu beitragen, dass Russland nicht von Europa abegdrängt
werden und solle eigenverantwortlich seinen Weg gehen. "Es ist an der Zeit,
die Scheu vor dem deutschen Weg generell zu verlieren. Der französische Weg ist
unverwechselbar. England und Polen scheuen sich nicht, ihren Weg zu gehen.
Russland sucht ihn. Italien, die Niederlande oder Österrerich definieren
Merkmale ihres eigenen Weges." (S.139). Es sei nicht gut, es zu einer
deutschen Pflicht zu erheben, auch in Zukunft immer unkritisch dem
amerikanischen Weg zu folgen. Daher müsse Europa auch zusammenwachsen, denn nur
dann bestehe nicht die Gefahr der deutschen Politik, sich zwischen Paris und
Washington zu entscheiden. Außerdem solle Deutschland auf seine Singularität,
der strikten Beachtung des Völkerrechtes und auf das Angriffsverbot nach Art.
26 des Grundgesetzes stolz sein und in diese Integration einbringen. Durch diese
Grundgesetzbestimmung entspräche unsere Verfassung dem Völkerrecht.
"Dieser Weg verlangt und gestattet nun ein Deutschland im Dienste Europas,
das seine Interessen als normaler Staat verfolgt und seine Zukunft nicht von der
Vergangenheit behindern lässt: Die europäische Zukunftist wichtiger als die
deutsche Vergangenheit."
Die Thesen Bahrs kommen zu einer Zeit, in denen es Aufregung über den von
Bundeskanzler Schröder proklamierten "deutschen Weges" gegeben hat.
Bahr argumentiert in der Regel schlüssig, wenn auch im Sinne des Neo-Realismus,
einer politischen Denkrichtung in den Internationalen Beziehungen, die den
Interessen der Staaten entscheidende Priorität einräumt. Kissinger hat Bahr in
seinen Memoiren einen "Nationalisten" genannt. Ich bin der Meinung,
dass dies zutrifft, wenn Bahr dazu aufruft, die Interessen des eigenen Staates
bewußt zu vertreten. Was mich allerdings stört ist, dass Bahr meines Erachtens
den Aufbau eines Europas primär deshalb anstrebt, um ein Gegengewicht zu den
USA zu schaffen und nicht die europäische Integration als Wert an sich
begreift. Europa als Wertgemeinschaft oder nur als zusätzlicher Akteur in einer
multipolaren Welt? Außerdem fällt auf, dass der "Gesellschaftswelt"
kein Platz in diesem Denkmodell zugewiesen wird. Primäre Akteure bleiben die
Interessen der Staaten.
Dennoch muss gesagt werden, dass dieser streitbare Essay sehr wichtig ist. Er
enthält eine klare Analyse, die zwar nicht in allen Punkten widerspruchsfrei
ist, jedoch zum Nachdenken anregt. Sehr wertvoll ist auch, dass die wichtigsten
Neuerscheinungen zu den transatlantischen Beziehungen, etwa das Werk von Robert
Kagan: Macht und Ohnmacht : Amerika und Europa in der neuen Weltordnung
gewürdigt und ihre Kernaussagen sehr gut herausgearbeitet werden. Man merkt dem
Werk an, dass es von einem hochintelligenten Mann verfasst wurde. Als Ergänzung
empfehle ich noch neben Kagan und dem Werk von Nye: "Das amerikanische
Paradox" den bahnbrechenden Aufsatz von Christoph Bertram:
"Partnerschaft und Divergenz: "Die amerikansiche Außenpolitik und die
Zukunft der transatlantischen Beziehungen" in dem Buch: "Weltmacht
ohne Gegner: Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts."
Hier wird der politische und kulturelle Gegensatz zwischen den USA und Europa
treffend beschrieben. Bertram entwickelt Thesen, die Bahr in seinem Buch
aufgreift.
Fazit
Eine scharf pointierte, sicherlich umstrittene und zu Diskussionen anregende
Analyse des Weges einer deutschen Außenpolitik im neuen Jahrhundert, die
unabhängig von den aktuellen Spannungen zwischen Deutschland und den USA über
die Irak-Politik interessant ist, da sie längerfristige Entwicklungen im
Verhältnis zwischen Europa und den USA verdeutlicht und Bahr ebenso wie in
seinem Werk: "Wandel durch Annäherung" nicht nur als den geistigen
Architekten der Ostpolitik Willy Brandts, sondern auch als Vordenker eines
eigenen deutschen und europäischen Politikweges erscheinen lässt, der
mittelfristig Wirklichkeit werden könnte.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 21. September 2003 2003-09-21 16:56:41