Der Revolutionär verläßt die "Litanei von Frage und Antwort unserer
Medien (..) und politischen Wissenschaft, die Kritik nur simulieren, weil sie
ohne Konsequenzen bleibt" - so schrieb Bernd Rabehl jüngst in einer
Kolumne. Auch er möchte damit den leidenschaftslosen Historismus der
akademischen Zunft überwinden und macht diesen Anspruch anhand der Perspektive
Rudi Dutschkes (1940-1979) deutlich.
Seine befehdete Studie bricht aus dem gewohnten Intelligenzbetrieb aus und
beschreibt das Aufbegehren der Studenten von 1968. Zu Beginn macht Rabehl, bis
2003 Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin und einstiger
Weggefährte Dutschkes, deutlich, daß es ihm nicht um eine Biographie geht,
sondern darum, Dutschkes Denken im Sinne umfassender Neureflexion (Kapitel 5:
"Neubesinnen") aus den "historischen Zusammenhängen heraus zu
entschlüsseln." (7).
Die deutsche Nachkriegsdemokratie geriet 1968 durch Anklage in die
Grundlagenkrise. Gemäß dem idealistischen Anspruch einer Konvergenz von Sollen
und Sein verkündete Herbert Marcuse das Ende der Trennung des Ästhetischen vom
Wirklichen. Die Aufklärung sei nur halb vollendet, und es klaffe eine
irrationalistische Lücke zwischen freiheitlichen Proklamationen und den durch
die Prärogativen des Besatzungstatuts vorgegebenen ökonomistischen
Grundprinzipien der Bundesrepublik. So reicht bei Marcuse der Affekt gegen den
verkürzten Rationalismus einer negativ bleibenden Aufklärung bis zur
hegelschen Ästhetik und zum Vernunftidealismus Kants zurück. Im Zuge dieser
Tendenzen macht Rabehl deutlich, daß die Studenten an ihrer Radikalisierung
scheitern mußten und sich zu den Sachwaltern der halben Rationalität hin
konformisierten (102ff.).
In Kapiteln wie "Besetzung und Befreiung" (32ff.) oder
"Revolte" (58ff.) wird deutlich, daß sogar für Dutschke nach 1945
die Deutschen zu den geschichtslosen Völkern gehörten (109), womit die
Deutsche Ideologie nach der Wiedervereinigung - für Politologen wie Bernard
Willms oder Hans-Joachim Arndt war das keine Überraschung - primär den
nordamerikanischen Prinzipien folgte. Theoretische Abweichungen konnten nunmehr
im Rahmen herrschaftsaffirmativer und staatlich alimentierter Politologie als
"Extremismus" (8) kategorisiert werden. Rabehl, selbst Opfer dieser
Denunziationen geworden, weiß, daß kein Versuch unternommen wurde, das
Phänomen des traditionellen deutschen Politikbegriffes, so beispielsweise
seinen politischen Idealismus, die Apriorität der Vernunft und der Pflicht, die
bei Hegel angelegte Reflexionstheorie oder die Phänomenologie menschlichen
Geistes, aus sich selbst heraus zu erfassen. Die Rekonstituierung deutscher
Staatlichkeit blieb nachhaltig um das Element der Jeweiligkeit, der eigenen
deutschen Teilwahrheit, beschnitten.
Die Stärke von Rabehls Buch liegt darin, daß es die reformierte Idee einer
Dialektik der Freiheit, eines geradezu permanenten Gestaltungsauftrags - man
erinnere sich an Artikel 146 des Grundgesetzes - am Glühen erhält. Es vermag
deshalb konservative Aspekte im Sinne einer staatsphilosophischen Kontinuität
erstmals bei Dutschke zu erkennen. Das Agieren der Parteien über inszenierte
Werbefeldzüge und die politische Tendenz zur systemimmanenten Stagnation als
faktischer Reproduktion des ewig Gleichen ließen Rudi Dutschke patriotische
Konsequenzen ziehen. Seine revolutionären Motive speisten sich aus der
Ablehnung dekretierter Besatzungspolitik. Rabehl läßt - wie einst 1968 - immer
noch Funken sprühen.
Der Leser mag selbst entscheiden, ob er im Gesamtkontext des Buches die
autobiographischen Exkurse Rabehls über seine in München gehaltene
Dutschke-Rede von 1998 oder die Abrechnung mit dem "Kartell der
Lügen" (119), das Gerüchte über sich selbst und Dutschke verbreitet
haben soll, für hinderlich hält. Rabehls Plädoyer für den erneuten Versuch
einer Staatspartei jenseits der in die Dominanzstrukturen des hegemonialen
Pseudodiskurses eingebetteten "Volksparteien" wird nur vor folgendem
Hintergrund deutlich: Nation war für Dutschke - entgegen den Biographen
Christian Dithfurth oder Gretchen Dutschke - eine Instanz des Freiheitskampfes.
Rabehl gibt zu: "Plötzlich wurde ich von außen in das Denken von Dutschke
gestoßen, und erst jetzt begriff ich seinen revolutionären Ansatz."
Fazit
Das Buch verdeutlicht, daß der Sinn einer politischen Ordnung nicht die
Tautologie ihrer alleinigen Existenz ist, sondern das Gemeinwohl. Rabehls
Schrift, die sich von der üblichen Begriffsbildung einseitiger
Wahrheitsansprüche abhebt, entwickelt Maßstäbe, von denen nicht zuletzt die
heutige politische Wissenschaft profitieren könnte.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 19. Juni 2007 2007-06-19 09:00:53