Einer jeden Wissenschaft zu entrinnen, war das Anliegen Nicolás Gómes Dávilas
(1913-1994), wenn er in seinen 1954 verfaßten "Notas" - erstmals 2005
in deutscher Sprache veröffentlicht - schreibt: "Den starren Koordinaten
der Wissenschaft wie der Unterdrückung durch die kollektiven Mythen zu
entgehen, ist die Gegenwärtige Aufgabe des Geistes." Wer war dieser Mann,
der provokant die Aufgabe des Geistes jenseits der Wissenschaft sieht und die
Denunziationsvokabel "Reaktionär" (el reaccionario) zum Ehrentitel
modifizierte?
Die Schrift von Till Kinzel - bisher die einzige Monographie über Dávila -
gibt Aufschluß.
Dávila war Meister der aphoristischen Verknappung, er war der kolumbianische
Nietzsche. Kinzel ist in seinem Buch bemüht, alle notwendigen Zusammenhänge
seines Denkens authentisch darzustellen und muß sich dafür einem permanenten
Hagel an geschliffenen Gedanken, einem quasi-literarischen Stahlgewitter
stellen, welches Ausdruck ästhetischer und ethischer Greuel über die moderne
Gesellschaft ist. Dávila, angesehen in der Gesellschaft von Bogotá und
jeglicher Inkorporartion in politische Ämter, die man ihm oft anbot, abhold,
weilte viele Jahre im Kreise seiner Familie innerhalb seiner Bibliothek. Vor
diesem ‘herzlich’ anmutenden Hintergrund verdeutlicht Kinzel den Kampf
Dávilas gegen das "Problem der wuchernden sekundären Diskurse" (18),
die das Wesentliche im Leben verbergen, um sich dann auf das literarische
Phänomen dieses merklich theologisch orientierten Denkers zu konzentrieren
(27ff.). Gott war für Dávila der Kern der Dinge, von dessen Gnade der Mensch
nur erhoffen könne, was er sich nicht selbst anmaßen dürfe. In seiner
Ablehnung der Vulgaritäten des Tages, der Moderne überhaupt, ist Dávila nur
vergleichbar mit dem spanischen Gegenaufklärer und "Reaktionär" des
18. Jahrhunderts - Juan Donoso Cortés.
Hier wird deutlich, daß auch das terminologische Konstrukt
"Reaktionär" bei wertfreier Betrachtung bereits eine variierende
Modalität in sich birgt. "Reaktionär" ist nicht gleich
"Reaktionär". Kinzel begibt sich hier - womöglich unbeabsichtigt -
in die kantische Dialektik von umfassend empirisch reflektierten
Erfahrungsurteilen, die objektive Geltung beanspruchen können, und lediglich
subjektiv motivierten Wahrnehmungsurteilen, die deshalb wenig objektive Geltung
beanspruchen dürfen. Wahrheit liegt in Abwandlung der kantischen
transzendentalen Dialektik nicht in den Dingen selbst - hier in dem Begriff
"Reaktionär" - sondern in der dem Worte jeweils subjektiv
zugeschriebenen Bedeutung, also in dem Urteil über das Wort, sofern es gedacht
wird. Dieses Urteil muß deshalb möglichst rechtschaffen und an der Empirie
orientiert sein, um sich von ihr nicht zu entkoppeln. Es wird dann zum
Erfahrungsurteil. Terminologische Bedeutungen variieren je nach individueller
Wahrnehmung. Kinzel hingegen bedient sich Botho Strauß’ als eines Kronzeugen:
Der Reaktionär sei nicht Rückschrittler - man könnte ergänzen: zu dem ihn
die maßgeblich von der Empirie entkoppelten Wahrnehmungsurteile und
Herrschaftsstrukturen machen - sondern er schreitet voran, etwas Vergessenes zu
revitalisieren. So gerät Kinzels Buch zugleich zu einer Phänomenologie des
"Reaktionärs", der je nach Motivation des Urteils variabel definiert
werden könne, ein realistisches Bild vom Menschen habe und davor gefeit sei,
einer utopischen Restauration des Verlorenen zu verfallen. Er bleibt Richter
über die Dinge und gibt seinen Geist niemals der Partialrationalität
temporärer Ideologien preis. Er schreitet voran.
War Dávila niemals um eine wachsende Leserschaft bemüht, so ist doch dem Buche
Kinzels eine große Verbreitung zu wünschen. Setzte Dávila als Verfechter
eines Schreibstils, der keiner formalistischen Gattung beizuordnen ist, auf das
Pathos der Distanz zur Vulgarität des politischen Alltags, so kann gerade die
zunächst inhaltliche Distanz des gegenwärtigen Lesers die eigentliche
Voraussetzung zum ertragreichen Verständnis Dávilas sein. Dávila hätte im
Sinne seiner "Notas" dazu angemerkt: "Lesen heißt einen Stoß
erhalten, einen Schlag spüren, auf ein Hindernis treffen."
Fazit
War Dávila niemals um eine wachsende Leserschaft bemüht, so ist doch dem Buche
Kinzels eine große Verbreitung zu wünschen, denn Davilas Erkenntnisse haben
sich vielerorts als realistisch erwiesen.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 19. Juni 2007 2007-06-19 09:00:38