Ist dem Leser Dávila kein Hindernis, so wird er womöglich bei der Lektüre
Leon Bloys (1846-1917) an seine Grenzen gelangen. Dem promovierten Historiker
und Germanisten Alexander Pschera ist es zu verdanken, diesem Fall
entgegenzuwirken und eine einführende Studie zu Bloy vorzulegen. "Warum
sollte man also heute noch Bloy lesen? Und vor allem wie? Das vorliegende Buch
versucht, auf beide Fragen eine Antwort zu geben." (9). Damit ist sein
Programm umrissen. Es geht darum, dem Namen "Bloy" wieder einen Klang
zu verleihen, und er benutzt dazu eine spezifische Strategie.
Er stellt dem Leser zunächst Ernst Jünger (1895-1998) vor, der ein Mensch mit
besonderer Sichtweise der Wirklichkeit gewesen sei, einer Sichtweise, die alle
Gegensätze vereint. Jünger nannte diese Sichtweise "stereoskopisch".
Pschera nimmt also zunächst einen Exkurs zum stereoskopischen Lesen vor (9ff).
Der stereoskopische Leser beobachtet den Text, schafft sich eine vom momentanen
Abbild des Textes abstrahierende Anschauung und gewinnt damit eine dialektische
Optik, die ein und derselben literarischen Konfiguration zugleich zwei
Sinnesqualitäten abgewinnen kann. Der Leser agiert mehrdimensional, erstellt
Verknüpfungen zu bisher Gelesenem und erfaßt den Inhalt der Lektüre
komplementär. Pschera ordnet über diesen Weg das für heutige Verhältnisse
ungewöhnliche Denken Bloys in einen größeren Kontext ein und begründet zu
diesem Zweck über die Stereoskopie im Sinne der Dialektik von Text- und
Sachzugang eine annähernd neue Objektivität der Haltungen gegenüber diesem
verschollenen Autoren.
War das sechzehnbändige Werk Bloys von christlicher Anthropologie und Schmerz
geprägt, entfaltete es sich entsprechend radikal, so stellt der literarische
Bloy ("Gott zieht sich zurück") nunmehr den Teil eines Gesamten dar,
der komplementär zu Nietzsche ("Gott ist tot") und Jünger gesehen
werden muß (17). Bloy, 1868 Sekretär des Schriftstellers Jules Barbey
d’Aurevilly und von diesem zum Katholizismus bekehrt, erkennt eine
progressive, von Gott gelenkte Heilsgeschichte, während Nietzsche bekanntlich
nur eine "Wiederkehr des Gleichen" proklamierte. Das Buch Pscheras
zehrt, so verdeutlicht dieses Beispiel, von einer erfolgreich eingesetzten
Spannung, die sich aus der Anwendung des dialektischen (stereoskopischen) Bogens
beim Lesen speist. Dieser Effekt einer tiefergehenden Reflexion über das Werk
Bloys ist eine eindrucksvolle Leistung. Ohne sie wäre Bloy als
"katholischer Fanatiker", der sich selbst als Werkzeug Gottes sah,
kaum einem heutigen Publikum nahezubringen.
Der aufmerksame Leser vermißt allerdings bei Pschera den Versuch, die
dialektische Komponente im Werke Bloys selbst ausfindig zu machen. Dies wäre
durchaus möglich. So etwa wenn es heißt: "Die Sprache selbst hat für
Bloy keine Wahrheit, weil diese Wahrheit deutbar und damit relativ wäre. (...)
Die Wahrheit und die Erkenntnis dieser Wahrheit sind der Sprache immer
vorgeordnet." Das dialektische Moment liegt gerade darin, Wahrheit nicht an
formelle Eigenschaften von Sprache zu knüpfen, sondern darin, sich von der
Verpflichtung auf immanente Semantik zu befreien, um eine apriorisch verankerte
und im vorsprachlichen Sinnbezug verankerte Pluralisierung der Wahrheit
anzustreben. Hier wäre also die spekulativ-idealistische Komponente im Denken
Bloys auszumachen, die Pschera übersieht. Mit Bloy ist davon auszugehen, daß
man nicht um einen bestimmten Sinn von Empirizität und Aposteriorität wissen
kann, ohne zuvor mit einem nichtempirischen Sinn, einem vorgeordneten Apriori in
Korrelation zu stehen. Es gibt bei Bloy nicht die eindeutige "Absage an den
Idealismus" (35), welche Pschera feststellen zu müssen glaubt. War doch
für Bloy selbst in panlogistisch-pantheistischer Manier alles Geschehende, so
wie bei Hegel die gesamte Geschichte, Emanation des göttlichen Willens, eines
treibenden Weltgeistes.
Zu Lebzeiten blieb Leon Bloy der schriftstellerische Erfolg versagt. Er erlitt
schwere Schicksalsschläge, den Tod seiner Kinder und seiner von ihm zum
katholischen Glauben bekehrten Frau. Seine Stärke war die polemische Lakonik,
auch die vulgäre Polemik, weswegen Jünger Bloy einen "Zwillingskristall
aus Diamant und Kot" nannte. Bloy war der Pilger einer Absolutheit des Ich,
für den Leiden und Schmerz erst zum Leben hinführten. Freilich speiste sich
daraus seine Polemik gegen ein verbürgerlichtes Christentum, für das er harte
Worte fand.
Im "Schweinetum der Moderne" - so Bloy - stand er als Vertreter des
"Renouveau catholique" für einen kompromißlosen Glauben. Das Buch
Pscheras endet mit einem Epilog, der sich mit Heinrich Böll befaßt, welcher
ähnlich wie Jünger im besetzten Paris des zweiten Weltkrieges auf die Werke
Bloys stieß und diese 1936 zu schätzen lernte: "...diesen Mann, den ich
am meisten liebe von allen, die je in Europa Bücher geschrieben haben."
Das in der Reihe "Perspektiven" vorläufig letzte Buch hat Bloy nicht
nur der Vergessenheit entrissen, sondern in einen umfassenden Gesamtkontext
eingeordnet, der zur stereoskopischen Lektüre herausfordert. Es bleibt zu
wünschen, daß zudem so mancher Leser daraus den Entschluß zur
stereoskopischen Betrachtung der Realität, zum entsprechend handelnden
Sachzugang hervorgehend aus dem methodischen Textzugang, faßt, würde dies doch
wahre Integration und Toleranz verheißen.
Insgesamt ist es der Reihe "Perspektiven" hoch anzurechnen, daß sie
dem Anspruch des Wissenschaftsbegriffs von Max Weber folgt, das Substanzielle
und überhaupt Wißbare mit möglichst praktizierter Wertfreiheit zu ergründen
und den jeweiligen Wahrheitskern geistiger Phänomene hervortreten zu lassen.
Die Wissenschaft wird damit selbst substanziell, ohne sich von ideologischen
Widersprüchen bestimmen zu lassen und sich auf diese je nach Geschick
auszurichten. Wahrheit kann nur sinnvoll erfaßt werden, wenn sich ein
entsprechender Wille zur Wahrheit gleichzeitig der Mannigfaltigkeit des
Empirischen gewachsen zeigt. Diesem Anspruch trägt dieses letzte Bändchen
über Bloy neben allen weiteren sieben Bändchen Rechnung. Das Resultat: Der
Geist des Antaios lebt noch; Herakles zehrt bis heute von ihm. Nach
Durchschreiten des bisherigen Bogens kann man gespannt sein, welche/r
Verschollene sonst noch dem vergeßlichen Zeitgeist entrissen wird.
Fazit
Das vorliegende Buch bietet eine treffliche Einleitung in das spannende Werk
eines nahezu vergessenen Autoren.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 19. Juni 2007 2007-06-19 09:00:12