Immanuel Kant (1724-1804) erhoffte sich im Vorwort zu der ersten Ausgabe der
"Kritik der reinen Vernunft" (1781) einen Leser, der zugleich die
"Unparteilichkeit eines Richters" und den weiterführenden
"Beistand eines Mithelfers" an den Tag legt. Beide Eigenschaften
bietet diese Interpretation von "Kants zentralem Lehrstück".
Heinrichs ergründet unvoreingenommen und souverän Kants für jegliche
nachfolgende Philosophie ausschlaggebendes Werk und bietet zugleich den Beistand
eines Fürsprechers, der Kants Theorie würdigt und zugleich für die Gegenwart
in Richtung einer modernen Handlungstheorie weiterdenkt. Es war die zentrale
Leistung Kants, aufgezeigt zu haben, daß es transzendentale Erkenntnisse und
eine diesen entsprechende transzendentale, d.h. in Heinrichs’ Deutung
reflexive Methode gibt, die sich nicht nur mit den Gegenständen, sondern mit
der menschlichen Erkenntnisart von Gegenständen und ihrer apriorischen
Möglichkeit beschäftigen.
Kant war der Initiator subjektiver Reflexion, genauer der Reflexion der
Subjekt-Objekt-Relation, der Urheber der von ihm selbst mit Recht so genannten
"Kopernikanischen Wende".
Der Autor entwickelt im vorliegenden Buch Kants Theorie weiter, indem er sie in
ihrem wesentlichen Anspruch ernst nimmt und mitdenkend interpretiert. Er stellt
sich durch diese dialogische Neuinterpretation (188) gegen die
"Zeitkrankheit des Historismus" (19). Er zeigt dabei anhand Kants,
seltsamerweise in einem Anhang versteckten, Reflexionsbegriffspaaren (1.
Einerlei und Verschiedenheit, 2. Einstimmung und Widerstreit, 3. Inneres und
Äußeres, 4. Form und Inhalt) auf, daß diese die Urfunktionen des Verstandes
als Verbindungsvermögen beschreiben und damit die gestufte Grundstruktur
menschlichen Selbstbewußtseins kennzeichnen sowie die eigentliche Begründung
für die Kategoriengruppen bilden: 1. Quantität, 2. Qualität, 3. Relation und
4. Modalität.
Dem mit Heinrichs’ Schriften vertrauten Leser leuchtet an dieser Stelle ein,
daß seine Theorie der Viergliederung der interpersonal-sozialen Reflexion und
der sozialen Systeme dieser Vierfachheit der Reflexionsstufen entspringt, wobei
jene interpersonale Reflexion erst der Entdeckungszusammenhang für diese
tieferliegende und allgemeinere Vierstufung der Reflexion darstellt. Diese war
offenbar und erstaunlicherweise bei Kant implizit angelegt, konnte aber von ihm
wegen der fehlenden Interpersonaltheorie noch nicht hinreichend begründet
werden. Heinrichs beklagt diese Verdrängung der Begründungsproblematik in der
Kantforschung. Mit der fehlenden Begründung hänge die mangelnde
Konkretisierung oder Anwendung der Kategorien in der Literatur nach Kant
zusammen.
Es gelingt Heinrichs in beeindruckendem Maße, diese Konkretisierung der
Kategorien auf verschiedenen Gebieten zu entfalten, beispielsweise in seiner
Handlungs- und Sprachtheorie (Reflexionstheoretische Semiotik I und II, 1980/81)
sowie im Demokratiebuch von 2003 als politisch höchst relevante
Viergliederungstheorie. Diese Kontinuität zu Kant selbst verständlich zu
machen, ist Anliegen und Leistung des vorliegenden Kant-Buches. Damit folgt
Heinrichs den von Kant-Liebhabern durchaus gesetzten, aber nicht erfüllten
Anspruch, für jede kritische und systematische Philosophie auf Kants
Kategorientafel als Modell für apriorische Systematik zurückgreifen zu
müssen.
Die aufschlußreiche Interpretation der kantischen Kategorien als Schlüssel zum
Gesamtverständnis zugleich von Kant sowie gegenwärtiger Reflexionstheorie
überhaupt ist womöglich für historisierende Kantphilologen ein gewagter
Schritt, jedoch für das Denken in Kants eigener Tradition ein gewaltiger Sprung
jenseits innerakademischer Stagnation. Entsprechend bilanziert Heinrichs selbst:
"Man nimmt Kants implizites Denken und Wollen nur ernst, wenn man sein
explizites Denken transzendiert. (...) Es geht aber um den lebendig, in neuem
Denken, weiterentwickelten Kant." (292).
Genau das bietet der Autor an: Die Interpretation von Kants
Transzendentalphilosophie als anfängliche Reflexionstheorie. Er zerschneidet
die Tücher des Kant-Mumienkultes und eines verharrenden und unfruchtbar
bleibenden schulphilosophischen Historismus, und er stellt ein neues Modell der
Kant-Auslegung vor, das den Königsberger als entscheidenden Initiator heutiger
Reflexions-Systemtheorie erscheinen läßt, in welcher Linie auch J.G. Fichte
und Hegel stehen.
Zum umfassenden Verständnis ist das Buch mit mehreren Nachträgen und Essays
versehen: zu bisherigen Kategorien-Büchern seit 1986, zu kategorialer und
systemtheoretischer Sozialphilosophie, zum "Versagen des
geisteswissenschaftlichen Diskurses" (269) sowie zu einem erstaunlichen
Brückenschlag zwischen Kants und Aristoteles Kategorienlehren (307-316).
Konstruktive und plausible Kritik aus hohem wissenschaftlichem Anspruch sorgen
für ein bei Heinrichs charakteristisches Lektüreerlebnis. Ein Glossar zur
Erläuterung der wichtigsten Begriffe erleichtert es dem Leser, sowohl Kants
Terminologie selbst als auch seine Fortentwicklung bei den nachfolgenden
Philosophen sowie bei Heinrichs selbst besser zu verstehen.
In Zeiten zunehmend gehemmter akademischer Auseinandersetzung auf der Basis
eindimensionaler und schubladisierender Begriffsbildung über grundsätzliche
philosophische Fragen und Methoden sowie in einer Zeit der Abnahme
gesellschaftlicher Relevanz sozialwissenschaftlicher Fächer bei gleichzeitiger
Expansion ihrer Studentenzahlen ist dieses Buch ein hoffnungsvoll stimmender
Lichtblick für eine praxisrelevante Geisteswissenschaft. Er macht die
grundlegende Bedeutung der auf das praktische Leben bedachten
Universalphilosophen vom Schlage Schellings oder Hegels des 19. Jahrhunderts
nachvollziehbar und läßt diesen Anspruch auch als erstrebenswert, ja
erfüllbar für die Gegenwart aufscheinen.
Fazit
Dieses Buch verdeutlicht den Weg hin zur praktischen Philosophie, die die
selbstaufgestellte Bannmeile und ihrer für das freie Denken erzwungenen
Unmündigkeit entschieden überschreitet. Das Buch zeigt damit, daß neue Wege
dadurch entstehen, daß man sie einfach geht.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 18. Juni 2007 2007-06-18 18:54:02