Die vorliegende Rezension zum Buch von Hajo Schumacher mit dem Titel "Die
zwölf Gesetze der Macht. Angela Merkels Erfolgsgeheimnisse" soll einen
umfassenden Einblick in das Werk des Autors liefern. Dabei werden
schwerpunktmäßig die Darstellung der Hauptthesen und die Einordnung des Buches
in die Gegenwartsliteratur erfolgen. Dieses Vorgehen erleichtert eine
abschließende Bewertung des Buches.
2. Einordnung des Buches in die Gegenwartsliteratur
Wer von Angelika Merkel spricht - das lehrt das politische Geschehen der
vergangenen Jahre - sollte davor gefeit sein, sie vorschnell zu beurteilen und
damit potentiell zu unterschätzen. Als Helmut Kohl sie in die Regierung holte
und als Familien- und Frauenministerin sowie ab 1995 als Umweltministerin in
sein Kabinett aufnahm, wurde dieser Schritt allenfalls als kluger Schachzug des
Kanzlers interpretiert. Von "Doppelter Quotenerfüllung" war die Rede:
Eine Frau, die zugleich aus dem Osten kommt. Von ihrem politischen Talent
zumindest, welches hinter dem Schatten Helmut Kohls als verschwindend klein
galt, schienen die meisten nicht viel zu halten - ein großer Irrtum, wie wir
heute wissen. Dennoch war ihr politischer Aufbruch ein Entschlossener und
Besonderer, dem, wie Rupert Neudeck in seiner Rezension zum Merkel-Buch von
Schumacher feststellt, durch seine strategische Entschlossenheit sogar ein jeder
bisher gewohnter und zur Schau getragener "Betroffenheitstourismus" in
allerlei Sachfragen fremd war. Viele Rezensenten deuten damit tendenziell einen
besonderen Wesenszug bei Merkel an.
Der Autor Hajo Schumacher hat es sich zur Aufgabe gemacht, das politische
Geschehen um und die politischen Strategien von Angela Merkel aus sich selbst
heraus zu beschreiben. Er betrachtet die Kanzlerin in seinem Buch gleichsam
phänomenologisch, abstrahiert von oberflächlichem Gerede und naiver Anschauung
zugunsten einer ersten wesensgemäßen Schau des Phänomens "Merkel"
innerhalb eines ganzen Buches. Schumacher ist sich in seiner Beobachterposition
bewußt, dem Risiko entgangen zu sein, Merkel aus normativer oder
parteitaktischer Befangenheit heraus vorschnell zu beurteilen. Er verfällt
nicht dem oberflächlichen Geplänkel von Ablehnung und Ironie, womit sein Buch
jenseits partikularer Gesinnung steht. Und tatsächlich: Wer wie er von
"Erfolgsgeheimnissen" im Buchtitel spricht und diese zugleich in der
Empirie - Angela Merkel als erste deutsche Kanzlerin - bestätigt sieht, kann
sich in seinem Anliegen nahezu unmöglich geirrt haben.
Das Buch Schumachers ordnet sich ohne Zweifel in eine Reihe von Publikationen zu
Angela Merkel ein, die in den vergangenen Jahren - gehäuft im Jahre 2005 -
sowohl den Amtsantritt der Großen Koalition als auch Merkels politische
Biographie verständlich zu machen sich vornahmen. Diese Bücher legten entweder
Wert auf die Darstellung des politischen Weges der Kanzlerin in ihren eigenen
Worten, befaßten sich mit ihrer Karriere aus der Perspektive beobachtender
Personen oder abstrahierten von dem Genre der politischen Biographie, um
vorrangig ein generelles Bild der Zukunft Deutschlands vor dem Hintergrund der
ersten Kanzlerin zu malen.
Das Jahr 2006 - so läßt sich zum Ende desselben konstatieren - stellt eine
Trendwende dar, da hier das erste Buch erschien, welches sich vorrangig mit der
Frage von Merkels Weg zur politischen Macht auseinandersetzt. Diesen Trend setzt
nunmehr Hajo Schumacher fort, wenn er in seinem 256 Seiten umfassenden Buch,
welches im September erschien, die machtpolitischen Erfolgsrezepte Merkels
detaillierter beschreibt. In diesem Buch tritt die persönliche Biographie
Merkels, ostdeutsche Pfarrerstochter aus dem uckermärkischen Templin und einst
geachtete Physikerin an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, völlig
zurück. Diesen Weg verlässt der Autor nur, wenn die persönliche Biographie
der Kanzlerin dazu geeignet ist, ihren machtpolitischen Weg verständlicher zu
machen. Hier nun liegt der besondere Ansatz Schumachers.
3. Hintergrund und Motivation des Autors
Hajo Schumacher, Jahrgang 1964, studierte Journalistik, Politologie und
Psychologie. Er arbeitete von 1990 bis 2000 beim SPIEGEL, zuletzt als Co-Leiter
des Berliner Büros. Von 2000 bis 2002 war er Chefredakteur der Zeitschrift MAX
in Hamburg und lebt heute als freier Autor in Berlin. Seit dem 30. August 2006
moderiert er gemeinsam mit dem ehemaligen BILD-Journalisten Hans-Hermann Tiedje
die wöchentliche Gesprächssendung "Links-Rechts" auf N24. Schumacher
hat bereits vor seinem Merkel-Buch diverse Schriften verfaßt und trat zudem
über Kolumnen bei "Spiegel Online" (Pseudonym: Achim Achilles) in
Erscheinung. Neben seinem 2004 erschienen Portrait zu Roland Koch ist sein neues
Buch über Angela Merkel das zweite, welches sich mit Strategie und Lebenslauf
deutscher Politiker auseinandersetzt. Daß Schumacher dabei von seinen
bisherigen Publikationen und entsprechend absolvierten Reflexionen profitieren
kann, macht das vorliegende Buch über Merkel deutlich, denn hier stellt er
beide Personen gegenüber:
"Das Verhältnis der beiden (Koch/Merkel), widersprüchlich und gleichsam
verwoben, erinnerte eine Weile an das Duo Lafontaine/Schröder, genauso
machtbewusst, genauso grundverschieden. Koch ist der bessere Analytiker, Merkel
die bessere Strategin. Er spricht eher die Bosse an, sie die Basis. Sie verfügt
über einen Werkzeugkasten, der alles bietet vom Skalpell bis zur Dampframme, er
fährt am liebsten Panzer. Er denkt mechanisch, sie systemisch. Er will Recht
haben, sie will siegen. Vor allem aber: Sie ist eine Frau. Er dagegen gehört
dem edlen Geschlecht an, das in der CDU von Natur aus führt. So jedenfalls
sehen es die Hirsche der Partei." (120)
Schumacher traf Angela Merkel zum ersten Mal 1995, als sie gerade ihr Amt als
Umweltministerin übernahm. Er hat sie seither regelmäßig zu Interviews, auf
Reisen und Parteitagen gesprochen, so daß der Autor auf ein differenziertes
Bild von der Kanzlerin zurückgreifen kann. Man merkt es dem Buch deshalb auch
an, daß der Autor von Merkels erfolgreichem Agieren in der Spendenaffäre der
CDU und ihrer zunächst unglücklichen Niederlage in der Kanzler-Frage gegen
Edmund Stoiber beeindruckt ist. Dem aufmerksamen Leser wird dennoch schnell
klar, daß er es hier mit angewandtem politologischem Sachversand zu tun hat,
der zugleich die personellen Phänomene und Abläufe bundesdeutscher Politik zu
verstehen und darüber hinaus sinnvoll in Korrelation zu setzen vermag, um - so
der Politologe Karl-Rudolf-Korte in seinem Vorwort - nach tieferen Erklärungen
zu suchen.
4. Grundthesen
Angela Merkel wird in diesem Buch als gesamtdeutsch, liberal, unerschrocken,
neugierig, risikobewußt und patriotisch beschrieben. Faßt könnte man meinen,
daß des dem Autor im Sinne eines bereits früher von ihm veröffentlichten
Buches darauf ankommt, bei Merkel Eigenschaften konstatieren zu können, deren
Existenz im gesamtdeutschen Bewußtsein des Volkes erst wieder entstehen
müssen. So ranken sich die Grundthesen darum, was Merkel an politischen
Instinkten mit sich bringt und welche Fähigkeiten sie sich im Laufe ihres
Lebens angeeignet hat, um den höchsten Ämtern und den größten Depressionen
zu genügen. In zwölf Kapiteln analysiert Schumacher die Hauptelemente ihres
erfolgszentrierten Führungsstils. Seine Thesen lassen sich folgendermaßen
verdichten:
• Der politische Erfolg Angela Merkels ist kein Zufall, sondern Ergebnis einer
bewußten Machtstrategie.
• Ihre Standhaftigkeit gegenüber Rivalen und Kritikern in den vergangenen
Jahren resultiert aus den Erfahrungen, die sie in der DDR sammelte, was ihr
heute zum Vorteil gereicht.
• Der Mensch Angela Merkel wurde nicht zur mächtigsten deutschen Person, weil
er weiblichen Geschlechts ist, sondern trotz dieser Tatsache. Sie kämpfte sich
durch die Masse männlicher Konkurrenten: nachgiebig und mit starken Ellenbogen
zugleich.
5. Ausführliche Zusammenfassung
Daß die Thesen stimmig sind und so manches politische Phänomen innerhalb
Merkels Werdegang zu erklären vermögen, liegt auf der Hand. Dennoch fällt dem
Leser auf, daß der Autor dergleichen Behauptungen (z.B. "Erfahrungen aus
der DDR") nicht unbewiesen lassen kann. Seine Thesen bedürfen einer
Tiefendimension, die er sogleich auch abliefert.
Er charakterisiert die Kanzlerin detaillierter als "Männerleserin",
"Freibeuterin" und "Brückenbauerin" und zeigt anhand dieser
Charakteristika ihren Willen zum Sieg ebenso auf, wie ihre Fähigkeit, mit
naturwissenschaftlichem Denken Probleme zu bewältigen. Auch besitze Angela
Merkel neben "protestantischer Arbeits- und Bescheidenheitsethik"
durch ihre Herkunft "Züge eines modischen Retroschicks". (31) Der
Leser bekommt ausführlich erklärt, wie Merkel, die alle ihre Kämpfe im Namen
der Freiheit geführt habe, eine Herrscherin wurde, die sich Respekt
verschaffte. Schumacher weiß beispielsweise:
"Wie sie Koch schließlich als Rivalen losgeworden ist, zeigt prototypisch
Merkels Umgang mit Männern. Sie hat ihn nicht erledigt; die Kraft dazu hätte
sie kaum gehabt. Aber sie hat ihm Fallen gestellt und auf den Moment gewartet,
an dem sich einige typisch männliche Wesenszüge von allein Bahn brechen
würden, vor allem Ungeduld und Eitelkeit. Angela Merkel ermordet ihre
Konkurrenten nicht. Sie wartet darauf, dass die sich selbst erledigen."
(121)
5.1 "Männerleserin" (118ff.)
Mit diesem Punkt spricht Schumacher einen zentralen Aspekt an. Die
Spendenaffäre in der CDU vom Dezember 1999 - von Schumacher selbst nur marginal
abgehandelt - war bekanntlich ein Schock, der ungeahnte personelle Konsequenzen
mit sich zog. Ehemalige Führungspersönlichkeiten, männliche Gegenspieler
galten seit dem 4. November 1999 als Betrüger. In dieser düsteren Phase in der
Geschichte der Union wurde wegen Steuerhinterziehung Haftbefehl gegen Walther
Leisler Kiep, ehemaliger CDU-Schatzmeister, erlassen. Kiep erhielt im August
1991 eine Millionen DM vom Waffenhandelslobbyisten Karlheinz Schreiber und
leitete diese als Spende an die Union weiter. Die Geschäfte einiger Vertrauter
Helmut Kohls boten intern das Bild einer straff organisierten Partei dar, der
sich Merkel zu stellen hatte und dies auch erfolgreich tat.
Im November 1999 fiel es nunmehr ihr zu, die Öffentlichkeit aufzuklären.
Schließlich gaben auch Ex-Generalsekretär Heiner Geißler und Helmut Kohl zu,
über die Millionenspenden informiert gewesen zu sein. Bedeutende männliche
Persönlichkeiten gerieten in Verruf, und Merkel absolvierte in
Pressekonferenzen - häufig hilflos aber erfolgreich - die Aufgabe, gnadenlose
Aufklärung zuzusichern. Sie eignete sich aus der Not heraus einen Umgang mit
ihren männlichen Mitstreitern aber auch Kontrahenten an. Dieser Umgang, der sie
gestärkt aus der Krise hervorgehen ließ und den sie - es sei an die Fälle
Merz, Koch und Wulff erinnert - immer wieder anwendete, sicherte ihr nachhaltig
Vorteile in der Partei. Fast wünschte man sich, daß Schumacher hier noch mehr
Details für seine "Männerleserin"-These bietet. Er stellt zu Recht
fest, daß sich Merkels vermeintliche Opfer "fast immer selbst
erledigt" (118) haben. Sie agierte bekanntlich hervorgehend aus dem
souveränen Umgang mit männlichen Kontrahenten anschließend dauerhaft
offensiv. Mit dieser Ansicht einer mit festem Standbein agierenden Angela Merkel
befindet sich Schumacher im Einklang mit Verlautbarungen der Zeitung
"Spiegel" aus dem Jahre 2000, war Schumacher bei dieser Zeitung doch
selbst zehn Jahre lang beschäftigt. Freilich bietet er hingegen hier die erste
geballte Analyse zu Merkels Strategie.
5.2 "Freibeuterin" (169ff.)
Im Zentrum von Merkels weiterer Strategie auf dem Wege zum Erfolg stehen in der
Analyse Schumachers ihre außerordentlichen Fähigkeiten, Netzwerke zu knüpfen,
zu pflegen und strategisch zu nutzen. Dazu gehöre auch das Wissen darum, wie
ihre Rivalen funktionieren. Dieses Wissen und ihre verwegene Art - ihr
"Gemüt einer Seeräuberin" (169) - habe ihr, so Schumacher, eine
permanente politische Beute gesichert. Er zieht auch hier den Bogen zu Merkels
DDR-Erfahrungen: Sie sei eine grandiose Seilschaftlerin, die grundsätzlich
siegen will und sich gern unterschätzen läßt. Das in der DDR lebensnotwendige
Heimlichtun habe sie deshalb verinnerlicht und weiter angewandt. Zur
Freibeuterei gehört nach Schumacher auch das Bilden von Banden und das
strategisch einzugehende Risiko. Einen wichtigen Aspekt in diesem Zusammenhang
hätte Schumacher allerdings weiter als nur auf einer Seite (187) ausführen
können: den FAZ-Artikel von 1999.
Der entschiedene Sprung, die politische decision, erfordert eine schnelle
Auffassungsgabe, welche den Sprung zum richtigen Augenblick ermöglicht. So
geschehen etwa am 21. Dezember 1999. Merkel wollte den Aufklärungsprozeß und
einen Neuanfang in der CDU beschleunigen. Die 46-Jährige rief am 21. Dezember
1999 den damaligen Korrespondenten Karl Feldmeyer von der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung (FAZ) an und schlug ihm ein Gespräch vor. Am 22. Dezember
1999 erschien der Artikel Angela Merkels. Heute gilt er als das historische
Dokument für den von Merkel initiierten Bruch der CDU mit Helmut Kohl:
"Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden
zugefügt," schrieb sie. Die Partei müsse laufen lernen und "sich
zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich
selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie
muß sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen."
Während innerparteiliche Konkurrenten schwiegen, nutzte Merkel den richtigen
Augenblick, um sich in Szene zu setzen. Niemand außer ihr hatte den Mut und die
Unabhängigkeit, derartiges zu publizieren. Merkel ging ihr größtes
politisches Risiko ein. Sie war tatsächlich "Freibeuterin" und in
gewisser Weise dadurch "Männerleserin". Hajo Schumacher setzt mit
seiner trefflichen Terminologie am Beispiel vieler weiterer Begebenheiten neue
Maßstäbe.
5.3 "Brückenbauerin" (154ff.)
Schumacher schreibt ferner: "Wie ihr politischer Ziehvater regiert auch
Angela Merkel per Telefon. Sonntags nach dem Mittagessen fängt sie an,
Vertraute und wichtige Parteimitglieder anzurufen. Vor Beginn des ‚Tatort‘
ist sie selten damit fertig. Sie ermittelt Stimmungen, organisiert Mehrheiten,
droht und tobt." (80) Dieses Kapitel kann als eines der zentralen des
Buches gelten, da die Szenen, in denen Schumacher die Kanzlerin beschreibt,
einen bisher nie dagewesenen und humorvollen Einblick in ihre Wesensart bieten.
Er offenbart, daß diese Frau neben risikobewußten Mauern auch strategische
Brücken zu bauen in der Lage ist. "Die Zeit Kohls ist unwiederbringlich
vorüber" lautete die Schlagzeile in der FAZ. Die Spendenaffäre machte ihr
auf diese Weise klar, wie wenig sie trotz acht Jahren Regierungs- und
Parteiarbeit in das Machtzentrum vordrang. Im Fall der Spendenaffäre war das
ein Vorteil, und als solchen spielte sie ihre bisherige Randstellung aus - baute
Brücken zu medialen Vermittlern und neuen personellen Strukturen in der Partei.
Sie wußte tatsächlich die Freiheit, die ihr aus dem bestandenen Risiko
erwuchs, zu nutzen. Ihr Amt und ihre politische Erfahrung hatten sie als Mensch
- soziologische Studien erkannten dieses Phänomen bei Politikern bereits
früher - verändert. Merkel repräsentiere einen verbindenden
"gesamtgesellschaftlichen Vermittlungsausschuss" (154).
Schumacher betont in diesem Zusammenhang wiederum, daß Abenteuer und Freiheit
die Sehnsüchte Merkels in der DDR gewesen seien. Der Westen habe ihr die
demokratische Basis geboten, um dieses Streben schließlich auszuleben. Da ihr
Vater 1954 als Pastor mit ihr in den sozialistischen und zugleich per
definitionem atheistischen Teilstaat des Ostens ging, tat er dies - heute wenig
bekannt - aus missionarischer Überzeugung. Merkels Sehnsüchte könnten damit
tatsächlich über die Jahre so gereift sein, wie es Schumacher beschreibt. Das
politische Verständnis der jungen Angela Merkel beruhte - so auch Schumacher -
nicht auf erlebter Erfahrung, sondern auf dem erträumten Kontrast zwischen Ost
und West. Diesen Kontrast verknüpft Schumacher trefflich mit Merkles
praktischer politischer Motivationslage und verortet hier u. a. ihr Streben nach
verbindenden Brücken. Freiheit und Demokratie bargen für sie das Potential zum
Brückenbau zwischen Menschen. Nun repräsentiere sie selber die Einheit so
vieler konträrer sozialer Gruppen. (156) Schumacher bezieht sich immer wieder
auf ihren biographischen Hintergrund und erklärt aus ihm das heutige Handeln
der Kanzlerin. Dem reflektierenden Leser erscheint das sehr plausibel.
6. Bewertung und Kritik
"Gehe ins Offene" - so habe ein guter Freund Merkels ihr einst ein
Buch gewidmet. Das Buch von Hajo Schumacher suggeriert womöglich unbeabsichtigt
aber erstaunlich komplementär, daß Merkel diese Forderung tatsächlich
auslebte, wodurch sich ihr Drang danach, freiheitsbewußt, machtbewußt aber
auch kühn zu agieren manifestierte. Schumachers Buch, welches entsprechende
Beweise und Grundschemata des Verhaltens präsentiert und welches ferner
interessante Interpretationen auf der Basis persönlicher Bekanntschaft mit der
Kanzlerin darbietet, ist dadurch ausgesprochen lesenswert. Es zeigt, daß
Merkels politischer Erfolg tatsächlich nicht zufällig ist und höchst
unterschiedliche biographische und motivationale Facetten aufweist, die über
bloße Begriffe oder Meinungen seitens ihrer Kritiker kaum erfaßbar sind. Es
bietet gleichsam einen interpretativen und hermeneutischen Schlüssel zu der
Tür, hinter der sich das Wesen der Machtpolitik verbirgt, um zugleich damit den
Aufstieg Angela Merkels als Physikerin zur Bundeskanzlerin vor dem Hintergrund
ihrer eigenen Verantwortungs- und auch Gesinnungsethik beispielhaft
verständlich zu machen.
Ist der Titel "Die zwölf Gesetze der Macht" zwar irreführend, da
Schumacher diese an keiner Stelle expliziert, so spricht er dennoch kapitelweise
in geradezu niezscheanischer Manier von Merkels Willen zur Macht und betont,
daß sie mit Nietzsche sogar das protestantische Pfarrerelternhaus verbindet.
(35) Ferner betont er ihre solide Ausbildung (92ff.), die Eroberung der Partei
(53ff.) und ihr Frauennetzwerk (82ff.). Schumacher zeigt, daß Merkel weiß, wie
man Risiken minimiert ohne sie ganz zu scheuen. (143ff.) Das ist eine
erstaunliche Leistung, die sich zugleich durch zwei in diesem Buch vorhandene
Ebenen als fruchtbar erweist: witzige Beschreibungen der Kanzlerin und ihrer
Konkurrenten konvergieren mit sorgfältigen politologischen Analysen. Freilich
hinterläßt das beim Leser eine immanente Sympathie für die Kanzlerin. Diese
Sympathie gibt zu bedenken, ob der Autor nicht selbst dem von vielen Menschen
verkannten Charme Merkels erlegen gewesen sein könnte. So bleiben auch einige
womöglich dieser Haltung geschuldete Widersprüche bei vollendeter Lektüre
zurück. Zunächst nennt Schumacher die Vorsicht als die Machtstrategie Merkels.
"Misserfolge vermeiden" (143) heiße ihre Grundmaxime. Hingegen ist
das Kapitel über die "Freibeuterin" ein literarisches Stahlgewitter
des Mutes: "Ich fürchte mich vor nichts!" (169) heißt es dort über
ihre "Piratenseele" (169). Vielleicht ist es aber gerade in
Verlängerung des dialektischen Bildes die Koinzidenz des Gegensätzlichen, die
das Wesen Merkels ausmacht und die Schumacher freiweg artikulieren wollte. Das
Ergebnis dieser Studie über die deutsche Bundeskanzlerin kann sich jedenfalls
sehen lassen. Es ist komplex, sperrig und in jedem Fall nicht Durchschnitt - wie
das politische und menschliche Wesen der Kanzlerin selbst, was es bekanntlich
für sie schwermacht, von allen geliebt zu werden oder analog dazu für das Buch
Schumachers erschwert, jedem Leser kompromißlos zuzusagen.
Hinter Merkel - so bleibt zu bilanzieren - steckt eine ganz eigene Art zu
denken, ein eigenes Prinzip - einerseits wissenschaftlich nüchtern,
andererseits mit viel Gefühl, einerseits vorsichtig und andererseits mit
ungehemmtem Risikobewußtsein. Im Sinne Niccolò Machiavellis ist es ihr
gelungen, aus der persönlichen vertú (Tugend) heraus die occasione (politische
Gelegenheit) alltäglich und entschieden beim Schopfe zu packen, um aus der
Schwäche eine strategische Überlegenheit erwachsen zu lassen. Das Bewahren und
ansatzweise Wiederherstellen der Glaubwürdigkeit der CDU bis hinein in ihr
eigentliches Stammwählerpotential bleibt eine besondere Herausforderung der
Gegenwart. Angela Merkel hat sie für sich gemeistert und sich damit einen Platz
in der Galerie der berühmtesten deutschen Frauen gesichert. Es bleibt zu
hoffen, daß ihr "Prinzip" immer mehr zu demjenigen ihrer Partei wird.
Fazit
Das vorliegende Buch gewährt einen neuen Blick auf die erste Bundeskanzlerin,
um diese anhand ihrer eigenen machtpolitischen Strategien bewerten zu können.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 18. Juni 2007 2007-06-18 17:28:26