Sich über Millionen Formen und Gestalten, Eindrücke und Ängste zu erheben und
den unabdingbaren Generalnenner in ihnen zu finden, den Generalnenner für die
hin und her reißende Fülle der Impressionen und Bestrebungen - das ist der Weg
zur Philosophie, die noch Probleme sieht und entgegen eines um ich greifenden
Komforts mit potentieller Denkfaulheit noch richtig denkt. Otto Weininger,
geboren 1880, gehört zu solchen Köpfen, die noch wirklich gedacht haben und
sich bis zum Schluß nicht auf normativ simulierte Lösungen verlassen konnten.
Dies tat er, um sich vollends mit dem Weltganzen eins zu fühlen, sich des
Seienden bewußt zu werden und dabei doch nur, wie er es in seinem berühmten
Erstwerk "Geschlecht und Charakter" schrieb - zu sich selbst zu
gelangen: "Der geniale Mensch ist derjenige, dem sein Ich zum Bewußtsein
gelangt ist." (Geschlecht und Charakter, 1932, S. 223) Weininger wollte so
das Elend des Irdischen transzendieren, denn er wusste ohnehin um die
transzendente Trostlosigkeit dessen, was heute da ist und in kosmischen
Dimensionen betrachtet bald nicht mehr sein wird oder der Bedeutungslosigkeit
notwendig preisgegeben ist.
Weininger wurde durch sein Werk "Geschlecht und Charakter" berühmt,
das eine erweiterte Fassung seiner Dissertation war, für die er vorerst keinen
Verleger fand. Sein Doktorvater wollte es keinem Verlag empfehlen, solange
bestimmte gedankliche Exzesse nicht korrigiert wurden. Doch Weininger war zu
stolz, um den Ratschlägen zu folgen. Er legte Sigmund Freud sein Manuskript
vor, in der Hoffnung, durch dessen Empfehlung im Verlag Franz Deuticke gedruckt
zu werden. In Weininger reifte ein erster Entschluss zum Tod, doch nach einem
langen, nächtlichen Gespräch mit seinem Freund Artur Gerber befand er die Zeit
als "noch nicht reif".
Nach Monaten konzentrierter Arbeit erschien im Juni 1903 "Geschlecht und
Charakter - eine prinzipielle Untersuchung", die das "Verhältnis der
Geschlechter" in ein "neues Licht" rückte. Es war wieder der
Text seiner Doktorarbeit, noch um drei entscheidende Kapitel erweitert.
Weininger versuchte sich an der Definition des Männlichen und Weiblichen, und
zwar vor dem Hintergrund der Annahme, daß in allen lebenden Dingen ein Anteil
von beiden zu finden sei. Er platzierte das Männliche an einem Ende einer Skala
und das Weibliche am anderen Ende. In der Vorstellung von Weib und Trieb
einerseits und Mann und Geist andererseits sah er den wesentlichen Antagonismus
des Lebens. Auch hier empfand er als erlösende Kraft nur einen Genius, der
allein Innbegriff des Männlichen ist: "Genial ist ein Mensch dann zu
nennen, wenn er in bewusstem Zusammenhange mit dem Weltganzen lebt. Erst das
Geniale ist somit das eigentlich Göttliche im Menschen." (Ebd. 213) Nur
der Alleserfasser, der Allesdenker, der Praktizierende des ganzheitlichen
Erwägens ist für Weininger des Göttlichen fähig und würdig.
Kaum bekannt ist Weiningers Spätwerk, das kurz vor seinem Tode Konturen annahm.
Im Verlag Matthes & Seitz ist unter dem hier zu besprechenden Titel "Über
die letzten Dinge" (1997) dieses Werk veröffentlicht worden. In diesem
Buch befinden sich aphoristische Nachlässe, die selbst als
"Gebliebenes" bezeichnet werden. Weiningers Theorie der Metaphysik und
seine letzten Aphorismen werden hier abschließend begleitet von einem Essay
Theodor Lessings, der das Phänomen Weininger einer Analyse unterwirft und zu
dem Fazit kommt, daß Weininger das "Schicksal eines tragischen
Selbsthasses" (199) zu tragen gezwungen war. Dieses trug er wahrlich mir
großer Beharrlichkeit - ohne der große Agitator der Verachtung zu sein, zu dem
er oft gestempelt wird.
Weininger schreibt in seinem hier vorliegenden Nachlaß selbst: "Es liegt
in der Gemütslage der Philosophen begründet, daß ihnen
agitatorisch-aggressives Auftreten schwerer fällt als anderen Menschen."
(178) So wird dieses Buch zur bisher kaum bekannten Quelle wertvoller
Aufzeichnungen, welche die Person Weiningers in neuem Lichte erstrahlen lassen
und zugleich eine gewisse Art des Verständnisses für die Person Weiningers
seitens seiner Leser herbeizuführen in der Lage sind.
In Anbetracht der inhaltlichen Tiefe seiner letzten schriftlichen Ausführungen
kann bei Weininger eine durch das Schicksal ihm aufgebürdete Intuition als das
für ihn letztgültige Realissimum angesehen werden. Für Weininger war es diese
spezifische Art der existentiellen Erfahrung, welche es ihm ermöglichte, das
Leben wesentlich symbolisch zu betrachten, Symbole des Leidens, des Todes, der
geistigen Hochwertigkeit, der sexuellen Fruchtbarkeit, der menschlichen
Niederträchtigkeit oder eben der Genialität im Leben zu erkennen und zu
benennen. In ihnen brachte er die Erfahrungen von sich selbst und seiner
Stellung in der Welt zum Ausdruck.
Freilich, angesichts des Eigeninteresses, das stets auf der Basis physischer
Existenz im Menschen wacht, ist der gewöhnliche Mensch von der Selbsttäuschung
gegenüber irdischen Tatsachen betroffen. Weininger ließt sich dadurch nicht
täuschen, kannte er doch als begeisterter Leser Kants die transzendentale
Bewandtnis alles vermeintlich materiell Vorhandenen und Wahrgenommenen und
konnte dasselbe als wesentlich geistig konstruiert ausmachen. Dies läßt dem
subjektiven Wahrnehmungsvermögen und der subjektiven Reflexion über das eigene
Vermögen der Wahrnehmung empirischer Sachverhalte eine enorme Bedeutung
zukommen, die den reflektierenden Menschen vom Schlage Weiningers oder einst
Hölderlins leicht beängstigen kann - ja sogar bekanntlich in den
"Wahnsinn" treibt.
Weininger schreibt - wohl wissend, daß dieser "Wahnsinn" ein
Konstrukt Außenstehender ist - beispielhaft an einer interessanten Stelle in
diesem Buch "Die objektive Seite der Furcht vor sich selbst kommt in der
Unheimlichkeit der These des absoluten Phänomenalismus zum Vorschein, welche
lehrt, dass nur die Empfindung Realität habe, und ich der fortdauernden
Existenz einer Wand, die ich eben betrachtet habe, nicht mehr versichert bin,
wenn ich ihr den Rücken zukehre." (153/154) Die Existenz der Welt des
Objektes, reduziert auf das transzendentale Wahrnehmungsvermögen im Kopf
scheint auf das sichtbare Objekt eingeschränkt und das vorher sichtbare Objekt
ist nicht mehr da, sobald wir unsere Wahrnehmung, das Auge, das Ohr, von diesem
Objekt abwenden. Es verwundert nicht - darauf verweist Lessing in seinem
abschließenden Essay - daß Weininger angesichts dieser Urerfahrung des
Phänomenalismus in seiner Jugend deshalb oft fragte, was denn nun existent ist
und was nicht, ob er überhaupt da sei oder ob alles nur Traum sei.
Wer also das vieldiskutierte Hauptwerk Weiningers gelesen hat, hat damit längst
nicht das umfassende Anliegen dieses Philosophen erfaßt, welches sich
tiefenphilosophisch erst bei umfassender Lektüre der immer wieder problematisch
bleibenden "letzten Dinge" des Lebens, die Weininger mitzuteilen sich
berufen fühlte, dem geneigten Leser erschließt. Weiniger stellte sich damit
zugleich konträr zu einer jeden gehegten Schulwissenschaft: "Um kurz
auszudrücken, was die heutige Wissenschaft ist und was sie nicht ist, können
wir sagen: diese Wissenschaft besitzt Resultate und stellt sich Aufgaben, aber
sie kennt keine Probleme mehr. Probleme gibt es nur für Menschen, die für und
über sich, und nicht für ein Götzenbild denken, wenn das Idol auch
Wissenschaft heißt." (171)
Die letzten fünf Tage seines Lebens bis zum 3. Oktober 1903 verbrachte
Weininger bei seinen Eltern. Er mietete sich dann ein Zimmer in Beethovens
Sterbehaus in der Schwarzspanierstraße 15. Dorthin begab er sich am Abend des
3. Oktober. Er schrieb zwei Briefe in dieser Nacht, einen an seinen Vater, einen
an seinen Bruder Richard. Der dreiundzwanzigjährige Otto Weininger absolvierte
am 4. Oktober 1903 in Beethovens Sterbehaus in Wien das von ihm bereits früher
angekündigte Opfer seiner Auslöschung und verlieh damit seinem gesamten
metaphysischen und philosophischen Schaffen den abschließenden Sinn. Lessing
schreibt im vorliegenden Buch: "Lieber wollte er sterben, als von der
erreichten Höhe nun zurücksinken in das uns alle bändigende Allgemeine."
(210) Am Morgen des 4. Oktober wurde er sterbend in seinem Zimmer aufgefunden.
Er hatte sich eine Kugel ins Herz geschossen. Er starb um halb elf Uhr
vormittags im Wiener Allgemeinen Krankenhaus in der Alser Straße. Das
"Schicksal eines tragischen Selbsthasses" (199), der durchaus ähnlich
wie bei Walter Benjamin oder Kral Marx als dezidiert jüdischer Selbsthaß
bezeichnet werden kann, hatte sich selbst zur Erlösung bringen können und man
gelangt zu der Erkenntnis, daß erst Weiningers schriftlich fixierten
"letzten Dinge" zum tieferen Verständnis dieses Schrittes zur
Selbstauslöschung beitragen. Das läßt diesem Buche eine gleichsam mystische
Bedeutung zukommen.
Weininger gehört gerade durch dieses Spätwerk zu den großen und
Unvergessenen, die als philosophische Denker, zur Selbstaufopferung
entschlossen, zwar nicht im Weltkrieg fielen, sondern diesen Schritt ähnlich
wie Phillipp Mainländer (1841-1876) als praktizierte Philosophie der Erlösung
gleichsam selbst vorwegnahmen. Den zahlreichen Unvergessenen des elf Jahre nach
Weiningers Tod beginnenden Weltkrieges (Walter Flex, Hermann Löns, Norbert von
Hellinrath und viele mehr) widmete Ernst Jünger einst das heute kaum noch
findbare Buch "Die Unvergessenen" (1928). In ihm heißt es:
"Nein, es ist kein Widerspruch, daß ein persönlicher Charakter nicht nur
Ausdruck seiner selbst, sondern eines größeren Charakters ist, und daß dieser
größere Charakter wiederum sich durch tausend Persönlichkeiten offenbart,
ähnlich wie die Natur sich nicht begnügt, die Idee eines Tieres, etwa einer
Muschel, in einer einzigen Form zu verwirklichen, sondern in einem überreichen
Spiel selbst die entferntesten Möglichkeiten dieser Idee zu erschöpfen strebt.
Diese Mannigfaltigkeit der Einheit und die Einheit im Mannigfaltigen macht jene
sinnvolle Fülle des Lebens aus, die uns immer wieder des Atems beraubt."
(Ebd., S. 13)
Sind jene gefallenen Philosophen und ihre Schriften Ausdruck eines größeren
und die Welt wirklich reflektierenden Charakters, so darf Otto Weininger, der
den Weltkrieg nicht erlebte, zur Komplettierung jenes größeren
Gesamt-Charakters höherer Geistigkeit nicht fehlen. Er trägt, wenn man ihn zu
verstehen gewillt ist, am Ende zur Einheit der Mannigfaltigkeit vieler junger
Denker und Philosophen zur Jahrhundertwende vor dem Weltkrieg in Deutschland
bei. Weininger war, wenn der im Kriege gefallene Herausgeber der Schriften
Hölderlins, Norbert von Hellinrath (1888-1916), meinte, es gebe die
Möglichkeit, Unsagbares zu schonen oder speziell für Verkünder eine
göttliche Notwendigkeit, Unsagbares zu sagen, zweifellos ein Verkünder des
für viele auch heute noch Unsagbaren. Das vorliegende Buch bietet den
Schlüssel zum Verständnis dieses Unsagbaren.
"Philosopher, c’est apprendre à mourir: Das ist der Weisheit letzter
Schluß." (Philipp Mainländer)
Fazit
Das vorliegende Buch bietet den Schlüssel zum Verständnis des Gesamtwerkes
Otto Weiningers und damit verknüpft zum Verständnis des für viele Menschen
Unsagbaren:
"Philosopher, c’est apprendre à mourir: Das ist der Weisheit letzter
Schluß."
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 09. Juni 2007 2007-06-09 18:33:38