Matthew und seine Frau Clara haben Ansel, den Lebensgefährten ihrer Tochter
Gail und einige Freunde zum Essen eingeladen. Die Rundfunkjournalistin Gail war
innerhalb weniger Tage an einer schweren Krankheit gestorben. Ansel Ressing,
Gails Partner, ist Arzt und arbeitet als Tuberkulose-Spezialist in Vancouver. Er
scheint stärker als Gails Eltern mit ihrem plötzlichen Tod zu hadern. In
Rückblenden erschließt sich, dass Matthew und Clara aus Südostasien nach
Kanada einwanderten. Die Geschichte ihre Familie steht stellvertretend für die
vieler Kanadier, deren Eltern aus verschiedenen Heimatländern stammen. Wie
Matthew und Clara verschließen viele Einwanderer traumatische Erfahrungen; sie
wollen ihren Kindern nur ungern ihre persönliche Geschichte weitergeben.
Matthew wird bald siebzig und kämpft allnächtlich in seinen Alpträumen mit
seinen Kindheitserlebnissen. Ihm ist die Vergangenheit näher als die Gegenwart.
Seine Frau und seine Tochter waren jahrelang Zeugen seiner Schlaflosigkeit und
bemühten sich um Zugang zur fremden Welt seiner Kindheit. Gail fühlte sich
schon in jungen Jahren für das Wohlergehen ihrer Eltern verantwortlich. So wie
Matthews Familie sich rückblickend Schicht für Schicht Matthews Kindheit in
Nord-Borneo (dem heutigen Malaysia) annähert, erschließt sich auch dem Leser
in Rückblenden das fein gesponnene Netz der Erinnerungen.
Matthew lebte zur Zeit der japanischen Besetzung auf der Kautschuk-Plantage
seiner Eltern. Ani, die Gefährtin seiner Kindheit, hat unter der
Willkür-Herrschaft der japanischen Besatzer ihre Eltern verloren. Sie ist stets
hungrig und schlägt sich mehr schlecht als recht allein durch. Matthews Familie
ängstigt sich täglich, dass der Vater interniert oder zum Tode verurteilt
werden könnte. Nach dem Krieg trennen sich Matthew und Ani. Matthew trifft
seine spätere Frau Clara, deren Familie aus Hongkong stammt, und wandert mit
ihr nach Kanada aus. Gails plötzlicher Tod ist für Eltern und Partner Anlass,
sich mit Tod, Verlust, Krieg und Not auseinander zu setzen. Matthews und Claras
Umgang mit dem Sterben ist deutlich von den Kulturen ihrer Herkunftsländer
geprägt. Für Matthew hat der Krieg niemals geendet; er lebt in einer eigenen
Welt. Ansels Erinnerungen an Gail streifen von ihrem Beruf als
Rundfunkjournalistin weiter zu ihrer Suche nach den Wurzeln ihrer Familie in
Asien, Australien und den Niederlanden. Gail hatte sich mit dem verschlüsselten
Tagebuch eines Niederländers aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs beschäftigt
und ihre berufliche Reise nach Europa genutzt, Rätsel aus der Vergangenheit
ihres Vaters zu lösen. Sie trifft sich mit dem niederländischen Fotografen
Sipke, der als 40-Jähriger als einer der letzten Europäer aus Indonesien
zurückkehrte. Gails Reportagen und Sipkes Fotos verknüpfen symbolhaft
Gegenwart und Vergangenheit.
Fazit
Madeleine Thiens Geschichte einer Einwanderfamilie in Kanada erstreckt sich
über mehrere Generationen und Kontinente. Die Autorin vermittelt in elegantem
Stil, was Heimat, Liebe, Verlust und Emigration ihren Figuren bedeuten, ohne
dass ihre Sprache je kitschig wirkt. Die allmähliche Annäherung an Matthews
Vergangenheit in Rückblenden und aus unterschiedlichen Perspektiven sorgt bis
zur letzten Seite für Spannung.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 09. Juni 2007 2007-06-09 15:52:43