Der Berliner Tischler Paul Mahlow aus der Langen Straße hatte seiner Mutter auf
dem Sterbebett versprochen, nie eine Rothaarige oder Schwarzhaarige und erst
recht keine rot- oder schwarzhaarige Katholikin zu heiraten. Doch aller
Aberglaube bringt Paul wenig Glück, seine Frau Luise stirbt bei der Geburt der
gemeinsamen Tochter Henrietta. Der alllein erziehende Vater Paul findet eine
Stelle als "Krankenwärter" auf der Tuberkulosestation der Berliner
Charité und nimmt seine kleine Tochter häufig mit zur Arbeit. Henrietta wird
bald zum Maskottchen der Ärzte und Forscher: Virchow, Koch, Ehrlich, Behring -
Henrietta lauscht fasziniert den einander in herzlicher Eifersucht verbundenen
Herren in Weiß. Anfangs glaubt die Kleine, unter ihren Mikroskopen würden die
Mediziner der Charité das Nichts untersuchen - es sind Bazillen, deren Existenz
und Verbreitung noch zu beweisen ist. Henrietta fragt, beobachtet, liest
heimlich nächtelang.
Im Jahr 1900 wurde in Deutschland die erste Medizinstudentin immatrikuliert - 50
Jahre später als in den USA und anderen europäischen Ländern. Ärztinnen wie
Dorothea Erxleben oder Charlotte Heidenreich waren absolute Ausnahmen. Lydia
Rabinowitsch-Klempner, eine der ersten Professorinnen in Deutschland, arbeitete
und forschte jahrelang ohne Bezahlung. Erst 1920 konnten Frauen sich auch in
Deutschland habilitieren. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis Mädchen in
Schulen und Universitäten gleiche Bildungs-Chancen erhielten.
Zu Henriettas Zeit behaupteten Mediziner, dass Wissen Mädchen schade und das
weibliche Gehirn nicht zum Studieren und Forschen geeignet sei. Klugers
couragierte Berlinerin ist der beste Beweis, dass schon damals mit weiblichen
Gehirnen alles in Ordnung war. Robert Koch zahlt dem straßenlaternengroßen,
wildhaarigen Wesen das Schulgeld - mehr kann ein Mädchen aus der Unterschicht
in der wilhelminischen Zeit nicht vom Leben erwarten. Doch Henrietta ist
überzeugt davon, dass die Zukunft dem gehört, der fragt. Die kesse Göre, die
keine Arbeit scheut und jeden Pfennig spart, verkörpert in Klugers Roman die
Verbindung zwischen den Mikrobenjägern und dem wirklichen Leben der
Tuberkulosekranken. Henriettas Idole sehen in ihr nicht mehr als ein nützliches
"Mädchen für alles". Frauen sollen heiraten und für eine Familie
sorgen; als medizinische Berufe sind allenfalls Krankenwärterin oder Laborantin
denkbar. Henriettas Wissbegier und Forschungsdrang treiben sie dazu, sich mit
der Hilfe des Friseurs Max in den Studenten Henry Wittig zu verwandeln und als
Mann in den Vorlesungen zu erscheinen. Doch trotz haarsträubender Versuche, ihr
Talent zu beweisen, wird sie an den verknöcherten Vorstellungen ihrer Zeit
scheitern.
Fazit
Martin Kluger beschreibt mit Wärme und Humor eine erfundene Gehilfin realer
Personen, die zur Gründerzeit die Entdeckung des Tuberkulose-Erregers
miterlebt. Kluger vermittelt in seinem mitreißenden Roman absolut authentisch
Sprache, Gedanken und Gefühle einer jungen Frau der Unterschicht und erweckt
gleichzeitig ihre Stadt und ihre Epoche zum Leben.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 02. Juni 2007 2007-06-02 14:02:02