Die Auseinandersetzung mit Oswald Spengler (1880-1936), dem begeisterten und
zugleich leidenden Philosophen des Schicksals, hat wieder Hochkonjunktur. Sein
Schicksalsbegriff ist zwar antirationalistisch, aber umso mehr - wenn man ihn zu
verstehen gewillt ist - der Wirklichkeit nahe. Die nunmehr erschienene Studie
von Frank Lisson bringt Licht in das Dunkel blind kultivierter Anschuldigungen
und Mißverständnisse gegenüber Spengler. Was vor über 80 Jahren
eindrucksvoll im "Untergang des Abendlandes" (1918) begann, in
"Preußentum und Sozialismus" (1919) die Abrechnung mit dem Marxismus
praktizierte sowie in "Jahre der Entscheidung" (1933) die heutigen
politischen und ökologischen Krisen der globalisierten Welt und ihrer
Wirtschaft prophezeite, bekommt der Leser in dieser Schrift kompakt und
unvoreingenommen präsentiert.
Sie zeichnet sich durch eine erfrischende Abkehr von der einst wenig
reflektierten Negativfolie "Spengler" aus und offenbart seine vielen
geistigen Schichten: Dichterphilosoph, Visionär, Tatsachenmensch und
Außenseiter. Als Außenseiter ergriff Spengler Partei gegen die
Nationalsozialisten, um nach Hitlers Vorgehen gegen die konservative Opposition
am 30. Juni 1934 Ekel gegenüber der Geistlosigkeit des "braunen
Haufens" zu empfinden. Lisson folgt bereits in der Gliederung dem Anspruch,
den Charakter Spenglers nun integral zu erfassen, was sein Buch nicht nur als
Remontage eines ungewürdigten Genies erscheinen läßt, sondern Spenglers
Einordnung in die deutsche Geistesgeschichte überhaupt nachholt: Ambivalenz
zwischen Politischem und Unpolitischem, Kultur und Zivilisation, Pessimismus und
Aktivismus, dogmatischer Religiosität und tieferer Spiritualität. So gelingt
es ihm, das Werk des Philosophen vor allen Dingen an die gleichsam sprudelnde
subjektive Kreativität der Persönlichkeit Spenglers zu knüpfen.
Spengler, geboren im anhaltinischen Blankenburg, verstand sich als Überwinder
des eurozentrischen Weltbildes. Die abendländische Kultur habe ihren Höhepunkt
erreicht. Als Zivilisation, der Ära des entgrenzten und mit mächtigen
exekutiven Befugnissen ausgestatteten Cäsarismus, gerate ihr Demokratismus zur
Farce bloßer Parolen, die von freiheitlichen Ansprüchen abstrahieren. So
ergibt sich ein bisher unbekanntes Spengler-Bild, das ihn als Personifizierung
der Schwellenzeit des 20. Jahrhunderts, als die Realität erfassenden Empiriker,
als von Sehnsucht geplagten und geisterfüllten Mystiker und als der
preußischen Tradition verhafteten Idealisten - als Meister der spekulativen
Induktion - aufscheinen läßt. Der alte Vorwurf des ausschließlichen
"Kulturpessimismus" wird ergänzt durch ein Komplementärbild, nach
dem es Spengler eigentlich nur um innovative Tatsachenmenschen ging, die
zugleich Ideale besitzen. Es ging ihm um einen Genius, der urteilsfähig und mit
ganzheitlichem Bewußtsein ausgestattet den profanen Parteihader überwindet.
Eine wichtige Rolle spielt im vorliegenden Buch natürlich Spenglers Hauptwerk:
"Der Untergang des Abendlandes". Mit der dort entfalteten Kombination
der repetitiven Zyklusidee von Kulturen und dem Problem der Dekadenz und des
Zerfalls der Kultur statuierte Spengler seine wesentliche und eigentliche
politische These. Anknüpfend an die Ideenlosigkeit der Menschheit und der
Bedeutungslosigkeit universalhumanistischer Werte, vor allem die der
liberal-rationalen Gedankenwelt (Herrschaft des Verstandes, Humanität, Freiheit
der Völker), hat in dieser Perspektive jede Kultur ihre Möglichkeiten des
Ausdruckes. Diese Möglichkeiten entfalten Wirkung, bilden Früchte, die
erscheinen, reifen, welken und nie wiederkehren. Der Verfall der Kultur, die
Passivität und die Ausdörrung des Menschen sei hier unvermeidlich wie der Tod,
der auf das Leben folgt. Das solistische ruhelose Streben des westlichen
Menschen nach dem Höheren, nach der Überwindung von Entfernungen gipfelt im
westlichen Expansionsdrang der Technik, in der Raumfahrt und der Computerwelt,
die die negativen Dialektiker wohl als Bestätigung ihrer Axiome ansähen. Das
Ich fiel also mit dem Willen Gottes zusammen und rückte die faustische
Willenskultur in den Mittelpunkt, die zugleich bei Spengler einhergeht mit dem
"Problem der Zivilisation".
Der kulturelle Niedergang, die psychische Krise kennzeichnet Spengler als
schwarzes Loch oder, um es treffend mit de Man auszudrücken, als "Werk der
Zergliederung", dessen Ergebnis letztendlich ein Residuum und eine
"unterbewußte Seelenschicht des infantilen Zustandes, der Träume"
ist, in dem "nur noch Empfindungen und Automatismen (...)
wiedergegeben" werden. (Hendrik de Man: Vermassung und Kulturverfall, 1951,
S. 127/128) Die Spaltung der Seele, die Grundtendenz der Flucht vom Hier ins
Anderswo, das latente Unbehagen dabei in der Kultur, hatte bereits Siegmund
Freud in seiner gleichnamigen Schrift erkannt. Die Tatbestände des exessiven
Feierns des gegenwärtigen vergnügungssüchtigen Hedonismus, der Begeisterung
für den Krieg, ob real oder auf der Leinwand, als Flucht aus dem Alltag, als
Moratorium, als gleichsam temporäres Ausscheren aus dem sekundären Zustand,
sind hier einzuordnen. Lisson gelingt es, diese Facetten im Denken Spenglers
sinnvoll auf die Gegenwart zu übertragen.
Der Politik aber rechnete Spengler in beiden Perioden, der Kulturphase und der
Zivilisationsphase, den gleichen Rang zu. Die Hypertrophie der Moderne mit ihrer
Radikalisierung destruktivster Aspekte unterliegt im Rahmen der Möglichkeit
einer aktiven Staatsbürgschaft einer gewissen Regulierbarkeit. Der
Kulturpessimismus wird hier zum punktuellen Optimismus des Pragmatikers. Ob
Spengler mit seinem Begriff von Politik und Kultur nach heutigen Kategorien und
begrifflichen Konstrukten Parteigänger eines politischen
"Extremismus" wäre, muß dahingestellt bleiben. Allein formale Logik,
Begriffe und diskriminierende Kategorien können das Wesen der Welt nicht
umfassend erschließen. Spengler stand an der Wegegabelung von ideellem Überbau
und kreativem Ekel an der Realität. Womöglich war es jener Zwiespalt, der
seine reifen Urteile ermöglichte. Sie laden zur neuen konstruktiven Reflexion
ein und künden heute eine sinnvolle Spengler-Renaissance an. Die vorliegende
Sekundärschrift dient als sinnvolle und vor allem unvoreingenommene Einführung
in Wesen und Werk Oswald Spenglers.
Daniel Bigalke, Dipl.-Pol.
Fazit
Diese Sekundärschrift über Oswald Spengler eröffnet den Weg zur Erkenntnis
eines verkannten deutschen Genies und trägt der neuerlichen
Spengler-Reneaissance aus verständliche Weise durchaus Rechnung.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 12. Mai 2007 2007-05-12 17:47:05