Dieses Buch markiert Johannes Heinrichs’ praktische Konsequenz im Bereich des
Politischen, die er hervorgehend aus dem von ihm erkannten Scheideweg zwischen
der in monotoner Philologie verharrenden universitären Philosophie und einer
Wissenschaft mit praktischen Konsequenzen zieht. Was hier in elf Kapiteln
geboten wird, ist - vor allem für die deutsche Nachkriegsdemokratie - ein
schwerwiegender Einschnitt in die bisherige Demokratie-Literatur, da Heinrichs
eine gesamte Staatsform ohne Vorbehalte und im Zusammenhang mit seiner gesamten
Theorie komplett neu reflektiert, dies aber in konstruktiver Absicht tut.
Im ersten Kapitel stellt er - zum Unbehagen konformitätsbeflissener Politologen
- dar, daß "Demokratie" im 20. Jahrhundert weder theoretisch noch
praktisch vollendet sei. Vielmehr berge sie einen permanenten Gestaltungsauftrag
in sich, was in Anbetracht von Artikel 146 des Grundgesetzes nur stringent
erscheint. Anschließend bietet er eine historische Untermauerung dieser These,
um von dort aus auf seinen "Systematischen Grundansatz" (Kapitel 3) zu
kommen. Bei dieser konzentrierten anthropologischen Grundlegung resümiert
Heinrichs seine persönlichen Konsequenzen aus der Habermas-Luhmann-Debatte um
Handlungs- und Systemtheorie, zu der er bereits seit seinen ersten
sozialphilosophischen Vorlesungen ("Reflexion als soziales System",
1976) Stellung bezog. Die Entstehung sozialer Systeme aus Handlungen - hier
liegt der entscheidende von Heinrichs zur Vermittlung der Debatte erkannte Punkt
- erfolgt durch sich intersubjektiv reflektierende und ihre jeweilige Intention
wechselseitig abspiegelnde Handlungen. Die von Habermas und Luhmann
unentschieden gelassene Debatte erfährt nunmehr ihre Auflösung. Es ergibt sich
daraus die reflexionslogische Vierstufung: unreflektierte Beziehung, einfach
reflektierte Beziehung, doppelt gegenläufig reflektierte Beziehung und
Abschlußreflexion.
Heinrichs verdeutlicht dies ähnlich wie schon 1976 am Modell des
Aneinander-Denkens. Dieser "Selbstbezug-im-Fremdbezug" (77) stellt die
praktische soziale Reflexion dar, von der im "Scheideweg", seinem
vorausgehenden Buch, bereits die Rede war. Sie ist das entscheidende
Kernparadigma bei Heinrichs, welches es ihm erlaubt, den missing link zwischen
Habermas und Luhmann, die zu viele ungelöste Fragen hinterlassen haben, für
sich in Anspruch nehmen zu können. Den Schritt zur institutionalisierten
Politik vollzieht Heinrichs, indem er das interpersonale Reflexionsverhältnis
auf die Subsysteme der Gesellschaft überträgt (Wirtschaft, Politik, Kultur und
weltanschaulich-religöse Letztwerte). Der Leser merkt bereits hier, daß es
Heinrichs um mehr geht: Er fordert - eigentlich nur folgerichtig - die
Aufspaltung der legislativen Gesetzgebungskörperschaft, nämlich die
unabhängige Wahl eines Grundwerteparlaments (4), Kulturparlaments (3),
Politikparlaments (2) und Wirtschaftsparlaments(1) (118ff). Zugleich führe
diese entscheidende Differenzierung des Parlaments auch die Differenzierung der
Exekutive in eine Verwaltungs- und eine Regierungsexekutive mit sich.
Was hier dem unpolitischen BRD-Politikwissenschaftler ein Greuel wäre, ist bei
genauerer Kenntnis von Heinrichs’ Schriften lediglich die praktische
Entfaltung seines konstruktiven Paradigmas, welches sich in kritischer Schärfe
und in erkenntnistheoretisch unanfechtbarer Herleitung korrigierend über die
zunehmende Dysfunkionalität der heutigen Nachkriegsdemokratie wölbt. Zugleich
aber - und das dürfte die in der Tradition der hegemonialen
"Demokratiewissenschaft" stehenden Politologen der Nachkriegszeit
versöhnen - verknüpft Heinrichs das liberale angloamerikanische mit dem
direktdemokratischen kontinentalen - dem spezifisch deutschen - Erbe von
Demokratie. Über Wege zur Umsetzung seines Konzeptes läßt er den Leser nicht
im Dunkeln.
In Fragen der "Revolution" oder der "Evolution" geht
Heinrichs auf Hölderlins Weg vom Revolutionär zum Evolutionär ein (362).
Wieder kommt es ihm darauf an, sich innerhalb einer größeren Kontinuität zu
sehen, sich in die deutsche Geistesgeschichte einzuordnen, zu der neben Fichte
und Hegel auch Hölderlin und Marx gehören. Sein Ansatz, der konkret und
praktikabel erscheint, speist sich damit aus einem normativ-kulturell
verstandenen Politikbegriff, der entgegen der dominierenden Politologie durchaus
andeutet, daß das Neureflektieren von Demokratie entsprechend der deutschen
philosophischen Geistesgeschichte noch zu absolvieren ist und sich die deutsche
Nachkriegs-Politologie entsprechend auf einen fruchtbaren Kern ihrer selbst
zurückzubesinnen hat. Heinrichs bietet einen Referenzentwurf an, der bei
aufgeschlossenem Lesen Vorteile mit sich bringt. Diese lassen sich
folgendermaßen verdichten: Versachlichung der Politik, Aufbrechen des
Parteienmonopols in eine Einheit von repräsentativer und direkter Demokratie,
umfassende Integration und Offenheit sowie denkerische Freiheit, die sich keinem
"Entweder-Oder" von geringer ontologischer Qualität sondern einem
eindeutigen hochwertigeren "Sowohl-als-auch" von nationaler und
transnationaler Perspektive verpflichtet fühlt.
Die Leistung dieser klugen und verdienstvollen Untersuchung, die auch der
Nürnberger Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider in seinem Vorwort
würdigt, liegt in ihrer allumfassenden Systematik. Dies ist deshalb
begrüßenswert, weil bisher zahlreiche Autoren wie Hans-Herbert von Arnim oder
Erwin K. Scheuch die mangelnde Reformfähigkeit und die mißverstandene Aufgabe
von Parteien und Wahlen anprangerten, bisher aber kein grundlegender
Reformvorschlag geboten wurde. Die Grenzen des Entwurfs liegen in seinem Vorteil
selbst - dem systematischen Ganzen, das dem Leser an einigen Stellen mehr
Konkretion hätte bieten müssen. Es fehlt der Raum, um die Details der an
fundamentalen Einsichten reichen Argumentation hinlänglich darzustellen.
Eines läßt sich aus Heinrichs’ Schrift und seiner staatsphilosophischen
Sicht entnehmen: Die deutsche Nachkriegsdemokratie mit ihren Formeln der
Nachkriegszeit gibt es nicht mehr. Angesichts ihrer ungeachtet der deutschen
Wiedervereinigung fortexistierenden Geschichtslosigkeit, ihres Operierens im
ideologischen Vakuum, des Verlusts von Wohlstand, und angesichts der
Desintegration notwendiger Lebensbezüge erwächst die grundgesetzlich
geforderte neue Stellung der aus der westdeutschen Nachkriegsgeschichte
überkommenen Demokratiefrage, die zu negieren kein Recht besteht. Die alte,
einst erfolgreiche Bundesrepublik Deutschland verwehrt sich sonst selbst die
Chance, den längst abgeklungenen Erfolg irgendwann doch noch einmal zu
wiederholen. Oswald Spengler schrieb seinerseits 1933 in entscheidungsreicher
Zeit: "Was als Anfang Großes versprach, endet in Tragödie oder Komödie.
Wir wollen diese Gefahren beizeiten und nüchtern ins Auge fassen, um klüger zu
sein als manche Generation der Vergangenheit." (Spengler, Oswald 1933:
Jahre der Entscheidung. Erster Teil. Deutschland und die weltgeschichtliche
Entwicklung, S. IX.)
Spengler hat Recht behalten. Auch heute leben wir in entscheidungsreicher Zeit,
die etwas völlig Neues erfordert, damit Politik nicht zur Komödie oder
Tragödie wird. In dieser Weise ist der Kern des neuen und realen Deutschen
Idealismus - an den Heinrichs anknüpft - politisch, und seine grundlegende Idee
ist die Verwirklichung der Freiheit durch bestimmte und für bestimmte Menschen
- das heißt für ein Volk. Freiheit aber ist eine höchst dynamische Sache,
deren lebensfähige Formen immer und permanent erarbeitet werden müssen. Dies
ist die Idee der Nation als einer Wirklichkeit, die politisch immer auf dem Weg
zu sich selbst ist. Politik und Reflexion korrespondieren in ihr konstruktiv.
Die politische Gegenwart ist davon weit entfernt. Gelangt die Schrift von
Heinrichs’ zu einer prinzipiell begründeten Neubewertung dessen, was
"Demokratie" ist und wieder sein könnte, so ist eines indes nach
vollendeter Lektüre klar: Die gesamtdeutsche Nachkriegsdemokratie hat noch
keineswegs ihre vollendete Form erhalten. Vielmehr hat die tabufreie
Auseinandersetzung mit ihr erst mit einem solchen Entwurf begonnen. Die
Habermas-Epoche ist längst vorbei. Sie hat sich geschichtlich erübrigt. Diesen
überfälligen Versuch von Heinrichs hingegen hat es in über 60 Jahren noch
nicht gegeben. Daniel Bigalke, Dipl.-Pol.
Fazit
Johannes Heinrichs stellt ernüchternd fest: Die gesamtdeutsche
Nachkriegsdemokratie hat noch keineswegs ihre vollendete Form erhalten. Vielmehr
hat die tabufreie Auseinandersetzung mit ihr erst mit einem solchen Entwurf
begonnen. Die Habermas-Epoche ist längst vorbei. Sie hat sich geschichtlich
erübrigt. Diesen überfälligen Versuch von Heinrichs hingegen hat es in über
60 Jahren noch nicht gegeben. Das Buch ist Ausdruck eines reinen und
unkorrumpierbaren Geistes.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 27. März 2007 2007-03-27 15:47:48