Halbe politische Repräsentation oder wirkliche Demokratie
In einer 1935 verbotenen, inzwischen fast verschollenen aber seit 2005 wieder
publizierten Schrift des Wissenschaftlers Ernst Niekisch (1889-1967) macht
dieser anhand eines dualistischen Verhältnisses deutlich, wie Regierende und
Regierte eines Staates einander bedingen und in Relation zueinander stehen:
"Die Tat des Untertanen ist immer so groß oder so klein, so folgenschwer
oder so unerheblich, so weitreichend oder so kurzsichtig, wie es die Anordnung
der Obrigkeit ist, durch die sie ausgelöst wurde. Die Obrigkeit hat jeweils die
Untertanen, die sie verdient; für alle Sünden und Unzulänglichkeiten der
Untertanen trägt die Obrigkeit die ausschließliche Verantwortung." (Ernst
Niekisch: Die dritte imperiale Figur, 1935, Neudruck 2005, S. 64)
Niekisch weist hier darauf hin, daß jegliches Mißverhalten, jegliches Vergehen
und jegliche Straftat innerhalb eines Volkes und seinen Regierten stets nur ein
Modus der Politik der Regierenden und eine analoge Spielart ihrer eigenen
Vergehen an den Schaltstellen der Macht ist. Kurz und auf bundesdeutsche
Verhältnisse der Gegenwart übertragen: Ohne einen "Extremismus" oder
ohne Verbrechen und Korruption im Staate selber, der "Extremisten"
oder Verbrecher zu definieren sich anmaßt, wäre die Existenz von politischen
"Extremisten" und Übeltätern im Volke selber undenkbar. Man nimmt
nur solche politischen Phänomene oder Unbehaglichkeiten wahr, deren negatives
Potential man selbst besitzt und damit durch die Verortung dieser Phänomene
außerhalb des Parlaments - außerhalb von sich selber - diese Eigenschaften bei
sich feige und unreflektiert abstreitet. Dieses enttäuschende Bild liefern die
repräsentativen "Demokratien" der Gegenwart.
Es handelt sich hier um eine wesentliche Neudefinition des Verhältnisses von
Regierenden und Regierten, von etablierter Politik und neuen politischen
Befindlichkeiten im Volke, die infolge ihrer aufkeimenden Aktualität eine
notwendige Neureflexion über das Selbstverständnis von repräsentativer
Demokratie überhaupt mit sich führt. Nur diese Staatsform definiert sich
nämlich über ein spezifisches Verhältnis von Regierenden und Regierten, von
Volk und Staat. Sie zeichnet sich aber gegenwärtig trotz der Notwendigkeit
dieser Neureflexion durch eine selbstimmunisierende Tendenz aus: Vieles darf
kritisiert werden - außer die "Demokratie" oder zumindest das, was
sich hegemonial und "herrschaftsfrei" als solches ausgibt. So ist der
"Demokrat" eine Karikatur der Freiheit, die er selber zu
repräsentieren vorgibt. Seine repräsentative Regierungsform bedarf also einer
unvoreingenommenen Analyse, um diesen Namen weiterhin zu verdienen. Diese
liefert das vorliegende und mit dem Philippe-Habert-Preis ausgezeichnete Buch
Bernard Manins, der, geboren 1951, Professor für politische Philosophie an der
New York University ist.
Sein nüchterner Blick zielt auf das vermeintlich unantastbare
Repräsentations-Axiom der Moderne, welches derselben im Sinne höherwertiger
Fortentwicklung eigener Ansprüche und entsprechender Innovationen aber kaum
noch Rechnung zu tragen scheint. Entsprechend kommt Manin zu einer erfreulichen
Schlußfolgerung: Was wir heute unter "Demokratie" verstehen, ist
Folge der Revolutionen in Amerika und Frankreich und galt niemals als eine
"Regierung des Volkes", denn der Wahl der Repräsentativorgane wohnt
eine systemimmanente aristokratische Wirkung inne. Manin beweist damit, daß
Verfassungstheoretiker in der Repräsentativität ab 1789 keine Form der
Demokratie sahen, da der Sieger bei Wahlen potentiell mit demjenigen Menschen
übereinstimme, der genügend finanzielle Mittel zur Selbstinszenierung bei der
Wahl hatte. Dies bestätigen nach Manin zum Beispiel die Theoretiker James
Madison (1751-1836) in den USA oder Emmanuel Joseph Sieyès (1748-1836) in
Frankreich.
Manin reflektiert auf diese Weise vermeintliche politische
Selbstverständlichkeiten kritisch und benennt Dinge, die zu benennen es
inzwischen überfällig geworden ist. Bei der repräsentativen Regierungsform
seien die Bürger zwar Quelle politischer Legitimation, nicht aber selbst
amtsberechtigt. Bis auf den deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt (1888-1985),
der diesen Antiegalitarismus bereits früh erkannte, ignoriert Manin hier jedoch
die deutsche Demokratietradition des 19. Jahrhunderts. Er beweist zwar, daß die
repräsentative Demokratie keine volkliche Selbstregierung, sondern ein System
ist, in dem die Politik lediglich zum Gegenstand des Urteils der Wähler wird,
wodurch die Reduzierung der Kluft zwischen Volk und Regierung aber unerreicht
bleibt. Dennoch hätte er hier gerade die kontinentalen deutschen Projekte
Fichtes und Hegels herausheben können, waren diese gleichwohl auf die reale und
transzendentale Konvergenz von Regierenden und Regierten, auf Identität von Ich
und Nicht-Ich im absoluten Ich, auf die Einheit von bürgerlicher Partizipation
und politischer Repräsentation bedacht. Die deutschen Theoretiker wußten
bereits früh, was heute unleugbar gespürt wird und wofür der in dieser
Tradition des Deutschen Idealismus stehende Sozialphilosoph Johannes Heinrichs,
geboren 1942, für die Gegenwart in seinen Schriften Zeugnis abliefert: Parteien
und erst Recht Massenparteien als alleinige willensbildende Konfigurationen
haben den Niedergang des Parlamentarismus als solchen bewirkt.
Konzentriert sich Manin leider nur auf Amerika, Frankreich und England, so wirkt
am Ende das Nachwort des Autors zu dieser deutschen Ausgabe versöhnlich. Es
bietet eine Auswertung erodierender Stammwählerschaften und eine auf
empirischen Analysen beruhende Bewertung aktueller Entwicklungen wie diejenige
der Massenmedien oder das Aufkommen vieler nicht-institutionalisierter
politischer Partizipationsoptionen. Nach vollendeter Lektüre weiß der Leser,
daß der repräsentative Populismus der Parlamentsparteien und seine dadurch
selbst verursachte strukturelle Unsachlichkeit gegenüber neuen politischen
Gedanken und Notwendigkeiten einer überfälligen sachlichen Kritik bedarf. Sie
liegt jetzt mit dem Buch Manins vor. Dasselbe zeigt an, daß konstruktiv
gemeinte Demokratiekritik Zukunft hat - und haben muß. Daniel Bigalke,
Dipl.-Pol.
Fazit
Das vorliegende Buch Manins hinterfragt mit konstruktivem Anspruch vermeintliche
politische Selbstverständlichkeiten und zeichnet sich damit durch eine
erfrischende Denkweise jenseits permanent reproduzierter Phrasen aus. Es gehört
in das Regal eines jeden Selbstdenkers.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 24. März 2007 2007-03-24 14:35:43