"Lassen Sie Europa entstehen!" Dieser Aufforderung Winston Churchills
aus dem Jahr 1946 sind die Europäer in den vergangenen Jahrzehnten wenigstens
ein Stück nachgekommen - trotz des Scheiterns des Verfassungsentwurfs und trotz
vieler (wohl nicht immer notwendigen) Reglementierungen aus Brüssel. Doch was
ist das Fundament Europas? Ist es das griechisch-römische und schließlich
mittelalterliche Erbe, die Aufklärung oder eine Mischung aus all dem? Im
Zusammenhang mit dem angestrebten EU-Beitritt der Türkei, sind diese Fragen
auch nicht mehr rein akademischer Natur. Die Grundlagen für das Entstehen des
modernen Europas wurden jedenfalls zu einem nicht unerheblichen Teil in der
Spätantike gelegt, also jenem Zeitraum zwischen ca. 300 und 600 n. Chr., der in
den vergangenen Jahrzehnten wieder verstärkt im Fokus der
Geschichtswissenschaft steht.
Den Ursprüngen Europas will auch die hier anzuzeigende Sammlung von
biographischen Skizzen wenigstens ansatzweise nachgehen. Der dabei behandelte
Zeitraum erstreckt sich von der Regierungszeit Constantins des Großen (dem 2007
eine Ausstellung in Trier gewidmet ist) (306-337), über das
"Zeitalter" Justinians im 6. Jahrhundert bis hin zu Karl dem Großen,
der nicht selten als "Vater Europas" gefeiert wird. Der Herausgeber
Mischa Meier, dessen
Abhandlungen über den oströmischen Kaiser Justinian I. die wissenschaftliche
Diskussion einige Impulse verdankt, hat eine durchaus namhafte Gruppe von
Autoren gewinnen können. Dass die Auswahl der behandelten Personen subjektiv
sein muss, betont Meier im Vorwort des Buches selbst. Und tatsächlich mag man
sich darüber streiten, ob etwa Papst Gregor der Große fehlen sollte, doch
beweist die Aufnahme von oft (durchaus zu Unrecht) vernachlässigten Personen
durchaus Mut. So wird nicht nur das Leben Constantins, Theodosius', Justinians,
Mohammeds und Karls des Großen behandelt, sondern auch der Sasanidenkönig
Chusro I., der Langobardenkönig Alboin, der Westgote Eurich oder der
oströmische Kaiser Herakleios wurden mit einem Eintrag bedacht - um nur einige
zu nennen.
Dabei wird in den meisten dieser "biographischen Portraits" ein
durchaus diffenzierteres Bild geboten, als man dies vielleicht von einem Werk
erwartet, welches ja durchaus eher auf ein allgemein interessiertes Publikum
ausgerichtet ist. So wird das Vorurteil von den nur grausam wütenden Vandalen
ebenso relativiert, wie auch die Vorstellung von einem glorreichen
"Zeitalter Justinians". Ebenso werden die grundlegenden
Strukturprobleme der jeweiligen Zeit wenigstens angerissen, wie die Folgen des
Zusammenbruchs der römischen Verwaltungsordnung im Westen im Laufe des 5.
Jahrhunderts. So entfaltet sich ein wesentlich vielschichtigeres Bild dieser
Epoche, in der das Christentum im Imperium Romanum den Sieg davon trug, aber
auch das Westreich unterging und in dessen Trümmern dann im Laufe der nächsten
Jahrhunderte das Europa des Mittelalters Gestalt annahm. Währenddessen hatte
das Ostreich einen Überlebenskampf zu bestehen, der erst 1453 endete.
Sicherlich darf man von derartigen "Portraits" keine detaillierte
Darstellung der Ereignisse oder der Kulturgeschichte erwarten, aber es werden
doch die Grundlinien der Entwicklung deutlich. Dies ist nicht zuletzt ein
Verdienst der insgesamt 19 Verfasser(innen). Trocken ist keiner der Beiträge zu
lesen, allerdings sticht doch der eine oder andere etwas hervor. Besonders
gelungen ist nach Meinung des Rezensenten, eben nicht nur, wie bereits kurz
angesprochen, eine Auswahl der "üblichen Verdächtigen" zu treffen
(wie eben Constantin, Chlodwig, Karl der Große etc.), sondern auch Personen
Platz einzuräumen, die keineswegs nur "Randfiguren" im Geschehen
dieser bewegten Zeit waren. Dass zusätzlich teils übersetzte Quellenauszüge
in die Darstellung eingeflochten sind, erhöht noch den Reiz der Lektüre.
Interessant wäre freilich gewesen, dabei stärker der Frage nach der
"Transformation" der Mittelmeerwelt in der Spätantike und im Frühen
Mittelalter nachzugehen, die in der historischen Forschung der letzten Jahre
wieder an Bedeutung gewonnen hat (vgl. etwa
Bryan Ward-Perkins, "The Fall
of Rome", Oxford 2005). Aber auch so ist das Buch eine interessante und
teils sogar packende Darstellung dieses gewaltigen Umbruchsprozesses, der Europa
tief geprägt hat - war doch auch dem Mittelalter beispielsweise die
"Romidee" nie entschwunden.
Einige nützliche Literaturangaben bzw. (knappe) Anmerkungen vervollständigen
den Band. Die Literaturhinweise sind insgesamt sehr aktuell, über die
Gewichtung ließe sich streiten. Dabei vermisst man vielleicht einige
übergreifende Darstellungen (die Cambridge Ancient History [Bd. 12-14] und die
New Cambridge Medieval History [Bd. 1 und 2] wären beispielsweise zu nennen),
die dafür aber teils als spezielle Literaturhinweise auftauchen, wie Jochen
Martins Darstellung der Spätantike oder Walter Pohls vorzügliche Einführung
in die Völkerwanderungszeit. Pohls Buch wird denn auch mehrmals genannt, so
etwa bei den Angaben zu Alarich, Geiserich, Attila und Chlodwig. Aber das ist
nicht wirklich störend, dass hingegen ein Register fehlt, schmerzt schon eher.