Reality check - durch diese aktuelle, rücksichtslose Fernsehsendung wurde
Carrie Kent zu einer berühmten Fernsehmoderatorin, die ihre Kandidaten bis
über die absolute Peinlichkeitsgrenze und Menschenwürde hinaus nach den
intimsten Dingen ihres Lebens befragte und nur Eines dabei im Kopf hatte: die
Einschaltquote hochzutreiben - gleichgültig um welchen Preis. Sie sonnte sich
in dem Gedanken, anders zu sein als die Befragten, im Gegensatz zu ihnen einer
anderen Schicht anzugehören, die priviligierter, reicher und unabhängiger war.
Dass ihre Ehe mit dem farbigen, blinden Mathematikprofessor Brody Quinell
gescheitert war und ihr gemeinsamer 15jähriger Sohn gerade ein Luxusinternat
verlassen hatte und jetzt täglich eine andere, qualitativ schlechtere Schule
besuchte, die in der Nähe der väterlichen Wohnung lag, schien ihren
Oberschicht-Status nicht zu tangieren. Bis eines Tages ein Anruf kam, der ihr
Leben veränderte: ihr Sohn Max wurde auf dem Schulhof erstochen, vom Täter
fehlte jede Spur und die einzige Zeugin, seine Freundin Dayna Ray, verweigerte
jede Aussage, konnte sich nicht erinnern und hatte durch den Verlust des
Freundes ein Trauma erlitten. Auf der Suche nach Aufklärung des Mordes, die
Carrie und Brody teils jeder für sich teils auch gemeinsam betrieben, wurde
beiden klar, wie wenig sie über Max wußten, wie fremd ihnen seine Gedanken
waren und wie nötig er ihre Hilfe gebraucht hätte. Würden sie letztendlich
über sich selbst zu Gericht sitzen müssen?
Sam Hayes arbeitet mit zahlreichen Perspektiven aus Sicht der verschiedenen
Protagonisten, in wechselnden Zeitebenen, in Vorausschauen und Rückblicken
unter Benutzung feinfühliger Sprache und einem permanenten, leise eskalierenden
Spannungsbogen, der dem Roman etwas vom Genre eines Thrillers verleiht. In
erzählender Stetigkeit entwickeln sich die Charaktere der Mitwirkenden, das
Mosaik ihrer Eigenschaften bildet ein Ganzes, aus dem heraus der Leser die
Geschehnisse erklären muss, damit er Logik in diese Verkettung von unseligen
Umständen bringen kann. In vielen, im Roman angesprochenen Gefühlen und
Empfindungen erkennt man den aktuellen Bezug zur Gegenwart, in der wir den
Mangel an Zuwendung und das fehlende Vermitteln von Geborgenheit beklagen. Das
hilflose, haltlose Treiben noch nicht gefestigter, nicht genügend
selbstbewußter junger Menschen ist nicht selten Auslöser von Einsamkeit und
Isoliertheit. Jedoch hätte die Schriftstellerin eventuell darauf verzichten
können, diesen Punkt in solch intensiver Häufigkeit zu erwähnen - weniger
wäre hier mehr gewesen, da der Leser ein gutes Gedächtnis für bereits
Geschriebenes hat. Ständige Wiederholung ermüdet auch. Unfassbar ist auch,
dass Max in keiner Weise die Möglichkeit fand, sich einem seiner Elterteile
mitzuteilen, obwohl diese doch jeder für sich in einer extrem anderen Welt
lebten als ihr ehemaliger Partner. Aber Max fühlte sich wohl in beiden
"Welten" irgendwie nicht zugehörig sondern "anders", wie er
selbst sagte - eine unselige Situation.
Trotz der Punkte, die meines Erachtens nach Anlaß zur Kritik geben, ist das
Buch flüssig zu lesen, bietet interessanten Lesestoff und eine gute,
anschauliche Sprache, deshalb acht Sterne.
Fazit
Ein eindrucksvoller Roman über Schuld und Schicksal, Verursacher und Erdulder,
in dem sich Grenzen verwischen und der Schmerz des Opfers zur Sühne des Täters
wird.
Vorgeschlagen von brillenbaby
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veröffentlicht am 09. Mai 2012 2012-05-09 14:22:32