Die 1898 geborene Rebecca Gategno wächst im damaligen Konstantinopel als
jüngste Tochter einer Familie sephardischer Juden auf. Die Sephardim wurden
1492 aus Spanien vertrieben und sprechen den romanischen Dialekt Ladino. Das
Judentum schien für die Gategnos eher ein Lebensstil als eine Religion zu sein.
Ihr religiös geprägter Lebensstil durfte auf keinen Fall verändert oder in
Frage gestellt werden, damit sie sich stets klar von anderen Volksgruppen
abgrenzen konnten. Zur Zeit der Jahrhundertwende war das Nebeneinander der
verschiedenen Religionen im damaligen Konstantinopel exakt geregelt. Jede
Religionsgemeinschaft benutzte an festgelegten Tagen den Hamam und blieb dort
unter sich. Die klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau gebot, dass
Frauen im Haus blieben und sich um das leibliche Wohl des Familienclans
kümmerten, während die Männer ihren Geschäften nachgingen.
Die wissbegierige Rebecca kämpft von klein auf um ihre Schulbildung. Sie
stellt fest, dass zwischen dem Recht auf Schulbesuch und dem Recht auf Bildung
ein feiner Unterschied besteht. Sie hat 7 Wochenstunden Handarbeitsunterricht.
Ihre Brüder und alle anderen Jungen lernen währenddessen 7 Stunden Türkisch;
denn sie sollen später die väterlichen Geschäfte führen. Zu Rebeccas Zeit
waren die Sephardim in Konstantinopel traditionsgemäß frankophil und schickten
ihre Kinder auf französische Schulen. Als über Rebeccas Zukunft debattiert
wird, zeichnen sich innerhalb und außerhalb der Familie Gategno bereits
gewaltige gesellschaftliche Umbrüche ab. Im Inneren hat "Senor Padre"
plötzlich seine Autorität gegenüber kritischen Töchtern und politisch
interessierten Söhnen zu rechtfertigen. Außerhalb strebt Atatürks Kemalismus
eine Trennung von Religion und Staat in der Türkei an. Der alte Gategno,
amtierender Patriarch eines ausgedehnten Familienclans, kann sich mit den
politischen Veränderungen in der Türkei und in der Welt ebenso wenig abfinden
wie mit dem Freiheitsdrang seiner Kinder. Nach seinem Tod übernimmt Rebeccas
Bruder die klassische Patriarchenrolle, obwohl er längst im Paris des 20.
Jahrhunderts lebt.
Rebecca wird nach der Grundschule zum Schulbesuch nach Paris geschickt und
träumt eher von einer Tätigkeit als Lehrerin als von einer Wertsteigerung auf
dem Heiratsmarkt durch den Schulabschluss. Der plötzliche Tod ihrer Schwester
Adela macht alle Träume zunichte. Rebecca beugt sich dem Diktat der Familie,
geht eine Vernunft-Ehe mit ihrem Schwager ein und zieht ihre drei kleinen Neffen
und Nichten auf. Erst nachdem die Kinder erwachsen sind, kann Rebecca an ein
eigenes Leben denken.
Fazit
Brigitte Peskines historisch-biografischer Roman beschreibt lebendig das
Konstantinopel der Jahrhundertwende. Ihr Buch rundet das Istanbul-Bild Orhan
Pamuks mit dem Blick aus einer anderen Zeit und aus weiblicher Perspektive ab.
Die "süßen Wasser Europas" sind ein beliebtes Ausflugsziel in
Istanbul, zwei Flüsse, die in das Goldene Horn münden. In den ersten Kapiteln
konsequent aus der Perspektive der kleinen, schulpflichtigen Rebecca zu
erzählen, gelingt Brigitte Peskine nur teilweise. Sie überfrachtet ihre
Hauptperson mit zu vielen historischen Fakten, die der erwachsenen Rebecca im
Rückblick bewusst gewesen sein werden, nicht aber der behüteten
Grundschülerin. Peskines fesselndes Frauen-Portrait ist in die Schilderung
einer eingeschworenen Religions-Gemeinschaft integriert, die von der Abgrenzung
nach außen so absorbiert wird, dass sie den Anschluss an die Entwicklungen der
Gegenwart verliert.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 08. März 2007 2007-03-08 21:42:50