Die Lewins sind allesamt ein wenig durchgeknallt. Großmutter Maud kann sehen,
obwohl sie blind ist, Mutter Elisabeth lebt in unnahbaren musikalischen
Sphären, und die Kinder haben auch so ihre kleinen Eigenheiten: die Zwillinge
Wanda und Leander lieben einander allzu innig, ihr Bruder Jules schlägt einem
Mörder im Affekt den Schädel ein und verfällt daraufhin ein paar Jahre in
Schweigen, und Emma, die jüngste, hört irgendwann einfach auf,
weiterzuwachsen. Einen Vater hat diese merkwürdige Sippe, die in einem halb
verfallenen Haus am Rande der Stadt wohnt, nicht aufzuweisen. All das ist
natürlich ein gefundenes Fressen für den kleinstädtischen Klatsch und
Tratsch, und dass die Kinder beim Heranwachsen eine Menge einzustecken haben,
ist nicht verwunderlich. Wie lässig sie allerdings die erschütterndsten Dinge
bewältigen, ohne daran Schaden zu nehmen, erstaunt schon eher. Leander ist es,
der erzählt. Er erzählt von der verzehrenden Liebe zu seiner
Zwillingsschwester, er erzählt, wie er zum Krüppel wird, er erzählt, wie er
sich in seinen Mitschüler Ralph verliebt. Lea, so wird er von allen genannt,
geht mit seiner Beinprothese genau so selbstverständlich um wie mit den ganzen
seltsamen Menschen um ihn herum, und nicht weniger gelassen mit dem Sex mit
seiner Schwester oder seinem Freund. Mit seiner Stimme schildert Gita Lehr in
ihrem Erstlingswerk die unmöglichsten Dinge so nachvollziehbar, dass sie
völlig selbstverständlich und ganz "normal" scheinen. Das einzig
Normale an diesem Buch ist allerdings, daß es sehr, sehr schnell geht, bis man
es nicht mehr weglegen mag.
Vorgeschlagen von Annette Rieck
[Profil]
veröffentlicht am 15. Januar 2007 2007-01-15 19:24:28