Helmut Schmidt kommt wieder in "Mode". Sind es die - insbesondere
außenpolitisch - unruhigeren Zeiten nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und
der drohenden Wiederkehr des Krieges als Mittel internationaler Politik oder ist
es der Überdruss über die als Taktiererei empfundenen Darstellungen unserer
politischen "Klasse" (ein von Schmidt häufig verwendeter
Begriff?"). Nachdem
Peter
Merseburger im vergangenen Herbst eine interessante Lebensbeschreibung über
Willy Brandt vorgelegt hat, so erscheint - rechtzeitig zu seinem 85. Geburtstag
- eine Biographie über Helmut Schmidt aus der Feder des 1964 geborenen
Freiburger Politikwissenschaftlers Dr. Martin Rupps. Er beschreibt in Anlehnung
an seine Dissertation über Politikverständnis und die geistigen Grundlagen von
Helmut Schmidt dessen politisches Wirken in Deutschland. Geprägt von Krieg und
Distanz zum Nationalsozialismus studiert Helmut Schmidt Volkswirtschaft und
Staatswissenschaft in Hamburg und steigt rasch politisch auf. Seine weiteren
politischen "Stationen" sind bekannt: Bundestagsabgeordneter seit
1953, Innensenator in Hamburg, Fraktionschef der SPD im Bundestag,
Bundesminister unter Willy Brandt, ab 1974 Bundeskanzler. Schmidt, der - so
Rupps - in Kategorien wie Nüchternheit, Stetigkeit, Berechenbarkeit denkt und
diese "Tugenden" ausstrahlte, war ein vollkommen realistischer und
rationaler Politiker, wie auch andere Biographen, etwa Carr oder Harald Steffahn
festgestellt haben. Er wurde nicht geliebt, aber respektiert. Seine Prägungen
und sein Denken hat Schmidt in zahlreichen Artikeln der "Zeit" und
vielen Büchern (etwa: "Menschen und Mächte" (1987), "Die
Selbstbehauptung Europas" (2000) dargelegt. Auch in dem Gesprächsband
Schmidts mit Sandra Maischberger "Hand aufs Herz", das - wie Rupps zu
recht bemerkt - sehr persönlich geraten ist, kommen Schmidts Vorbilder
(Perikles, Marc Aurel, Kant) und sein politisches Denken vor. Er macht es daher
seinen Biographen "leichter" als der sicherlich menschlich
umgänglichere, aber doch stark introvertierte
Willy Brandt, zu dem Schmidt, wie
Rupps korrekt bemerkt, ja ein sehr distanziertes Verhältnis hatte.
Wer dennoch über die politische "Philosophie" Helmut Schmidts genauer
informiert werden möchte, der sollte zu diesem Buch greifen. Es ist fesselnd
geschrieben und enthält ein umfangreiches Literaturverzeichnis, welches -
meines Wissens - keine Lücken enthält. Es belegt, wie intensiv sich Rupps mit
Schmidt beschäftigt hat - wie der Autor schreibt, lebenslang, da Schmidt Martin
Rupps nachhaltig geprägt und beeindruckt hat, wie im Anfangskapitel:
"Persönliche Bilder vom Kanzler Helmut Schmidt" deutlich wird. Ich
selber bin Jahrgang 1963, also etwa gleich alt wie der Autor und mir ging es
"ähnlich", das heisst, ich kann die Aussagen Martin Rupps - besonders
im entsprechenden Kapitel - gut nachvollziehen. Woran ist Schmidt letztlich
gescheitert? Rupps kommt zu der Auffassung, er und seine Generation seien zu
sehr vom Wachstums- und Wohlstandsdenken geprägt worden, welches sie als
Kriegsgeneration unbedingt erreichen und bewahren wollten. Schmidt habe kein
Verständnis für die neuen politischen Bewegungen (Ökologiebewegung,
Friedensbewegung) gehabt. Dieses mangelnde Verständnis für diese neuen
gesellschaftlichen Entwicklungen "an einer Nahtstelle zwischen altem und
neuem Denken" (S. 22) habe Schmidts Scheitern bewirkt.
Diese These hat viel für sich - mangelndes Verständnis für diese
Entwicklungen wurden Schmidt häufig vorgehalten - etwa von Eppler oder Brandt.
Rupps gelingt es, ein differenziertes Bild dieses bedeutenden und begabten
Politikers zu zeichnen, der eben nicht nur der nüchterne Macher, sondern auch
ein Moralist und Christ gewesen ist und "Gewißheit im Glauben" fand,
wie ein Kapitel von Rupps betitelt ist (S. 57). Ohne diese sittliche Verankerung
(Kants kategorischer Imperativ ist - wie auch Rupps betont - Leitmotiv Helmut
Schmidts), der sein eigene Gewissensentscheidung zum Maßstab seines Handelns
macht, wären schwierige Entscheidungen auch gegen maßgebliche Repräsentanten
der Kirche, wie der Nato-Doppelbeschluss nicht möglich gewesen. Dies betont
Rupps in dankenswerter Klarheit.
Trotzdem bin ich mit dieser Biographie nicht ganz zufrieden. Dies liegt zum
einen daran, dass zentrale Aussagen mehrfach wiederholt werden, eine
"Struktur" zu wenig erkennbar ist. Außerdem hätte ich gerne eine
stärkere Betonung der Ereignisgeschichte gehabt - etwa den Verlauf oder die
genaueren Ursachen zum Ende der Kanzlerschaft. Die Entfremdung zur FDP und
Genschers wird zwar beschrieben, aber eine Chronologie wird nicht erkennbar. Ein
Beispiel für diese mangelnde Struktur ist etwa das Kapitel: "Feldherr ohne
Truppen", in dem das Ende der sozial-liberalen Koalition beschrieben wird.
Ursachen und Symptome hätten meines Erachtens besser strukturiert werden
müssen.
Außerdem wird zwar das Dissertationsthema "Politikverständnis und
geistige Grundlagen von Helmut Schmidt" gut herausgearbeitet, die
Ereignisgeschichte kommt meines Erachtens jedoch zu kurz. Biographien werden
nicht verständlich, wenn die Wechselwirkung zwischen dem Wollen und den Zielen
des Biographierten, also seiner Persönlichkeit einerseits und den
gesellschaftlichen Einflüssen, auf die er - besonders in einer Staatsform wie
der Demokratie - reagieren muss, nicht deutlich genug herausgearbeitet werden.
Helmut Schmidt bewies eine bemerkenswerte Stringenz in seinem politischen Denken
- er wandelte seine Überzeugungen nicht, blieb konservativ. Aber er musste eben
auf gesellschaftliche Ereignisse reagieren: Ölkrise, Terrorismus.
Er war, wie Harald Steffahn in seiner rororo-Biographie schreibt, ein
"Meister des Realen." Steffahns Bilanz: "Dem nahezu irrtumsfreien
Wirklichkeitssinn des Außenpolitikers Bismarck, des späten Stresemann ist,
vergleichbar, wohl erst wieder Helmut Schmidt zur Seite zu stellen" trifft
meines Erachtens besser die "Bilanz" des Staatsmannes Schmidt als
Rupps eher nüchternes Fazit: "Er denkt in Kategorien wie Nüchternheit,
Stetigkeit, Brechenbarkeit. Diese Tugenden strahlt er aus. Für mehr steht
Helmut Schmidt nicht - aber auch nicht für weniger" . Auch hier scheint
mir Steffahn in seiner Biographie tiefer zu sehen: "Pragmatismus in
moralischer Absicht: In dieser Doppelheit allein hat Helmut Schmidt von jeher
Politik anerkennen können. Das nüchterne Durchsetzen von Absichten ohne
sittliches Fundament gilt ihm als leichtfertig und letztlich bodenlos, die
moralische Absicht ohne die dazugehörige praktische Vernunft hält er für
blauäugig und weltfremd. Daß der Politiker Schmidt eher in der ersten
Eigenschaft gesehen wird, sozusagen am Trapez des Pragmatismus ohne moralisches
Netz, darf er beruhigt als ein Verkennen werten; denn mehr als andere Politiker
hat gerade er inmer wieder die Zusammengehörigkeit beider Elemente
betont."
Dieser von Steffahn skizzierte Aspekt wird zwar auch bei Rupps herausgearbeitet
- kommt aber in der oben zitierten Bilanz eindeutig zu kurz. Dies ist schade und
schmälert meines Erachtens den Wert dieser insgesamt gelungenen Arbeit.