Nachdem nun auch die Zeitschrift "Damals" das vorliegende Buch auf
Platz 2 ihrer wichtigsten historischen Neuerscheinungen für das Jahr 2006 im
Bereich "Einzelstudie" gesetzt hat und ich in zahlreiche positive
Rezensionen zu dem vorliegenden Werk gelesen hatte, wurde ich neugierig und habe
mir das Buch besorgt. Um es kurz und knapp zu sagen: Mit Volker Ullrich von der
"Zeit" ist festzustellen, dass Longerichs Studie das beste Buch zum
Thema ist. Auf allerneuestem Forschungsstand - unter anderem den aktualisierten
Goebbels-Tagebüchern, der Auswertung von Beständen des Moskauer Sonderarchivs
und zahreicher Zeitungen und Zeitschriften entwirft der Autor eine faszinierend
zu lesende Darstellung der "Öffentlichkeitsarbeit" des "Dritten
Reiches" zum Thema Judenverfolgung und -vernichtung. Der Autor, Experte auf
diesem Gebiet, Direktor des Research Centre for the Holocaust und
Twentieth-Century History am Royal Holloway College der Universität London,
bilanziert anhand früherer Veröffentlichungen zum Thema - von Marliese
Steinert bis zu Schriften von Kershaw und Kulka/Jäckl - den Forschungsstand zum
Thema. Bereits hier stellt er fest, dass es zum Thema "weit auseinander
klaffende Befunde und relativ große Forschungslücken" (S. 19) gäbe. Dies
liegt an unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen. Zum einen hat sich das
zur Verfügung stehende empirische Material mit der Zeit erweitert. Außerdem
muss ganz klar festgestellt werden, dass die Meinungsäußerung in einer
totalitären Diktatur eben nicht mit demoskopischen Befunden einer
freiheitlichen Demokratie verwechselt werden darf. Es muss unterschieden werden
zwischen dem, was die Leute dachten und was sie sagten. Außerdem muss beachtet
werden, dass es das Propagandaministerium von Goebbels war, dass die Befragungen
durchführte. Dessen Interessen - seine Arbeit sollte nicht als
"nutzlos" dargestellt werden - müssen ebenso beachtet werden wie die
Interessen des Regimes als Ganzem.
"Mir scheint, dass man in dieser kritischen Sichtweise des Materials noch
einen Schritt weitergehen sollte als Kershaw und andere Forscher. Alle der hier
vorgestellten Autoren gehen nämlich von der Annahme aus, dass es auch unter dem
NS-Regime so etwas wie eine "öffentliche Meinung", eine
"Volksmeinung"...gegeben habe, dass also auch unter den Bedingungen
der Diktatur umfassende kollektive Meinungsbildungsprozesse vonstatten gingen.
Tatsächlich wissen wir aber viel zu wenig darüber, wie sich überhaupt
kollektive Stimmungen, Meinungen und Einstellungen unter der Diktatur
bildeten." (S. 20/21). Diese methodischen Schwierigkeiten beleuchtet
Longerich daher zunächst in einem eigenständigen Einleitungskapitel, welches
sich mit diesen Fragen beschäftigt. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass es
unter den Bedingungen der NS-Diktatur eben keine "diskursiven Mechanismen
für eine unabhängige Meinungsbildung und für die Konstituierung einer
"öffentlichen Meinung" gegeben habe. Angesichts der primären
Aufgabenstellung der "Stimmungsberichterstattung" verdienten jedoch
solche Berichte besondere Aufmerksamkeit, in denen die Auswirkungen staatlicher
Maßnahmen und Propaganda übereinstimmend als negativ beschrieben worden seien.
Ganz offensichtlich sei die Ausrichtung der Öffentlichkeit durch das Regime an
nicht überwindbare Grenzen gestoßen. So sei die Einführung des
"Judensterns" 1941 überwiegend von der Bevölkerung abgelehnt worden.
Generell sei zu konstatieren, dass - wenn man den gesamten Zeitraum der
NS-Diktatur überblicke, ein deutlicher Trend erkennbar werde: "Der Unwille
der Bevölkerung, ihr Verhalten zur "Judenfrage" entsprechend den vom
Regime verordneten Normen auszurichten, wuchs, je radikaler die Verfolgung
wurde" (S. 321). Das Regime habe im übrigen niemals die Judenverfolgung
und -vernichtung geleugnet, sondern sie insbesondere zwischen 1941 - dem Angriff
auf die Sowjetunion und dem Kriegseintritt der USA - und 1943 offen
zugegeben.
"Seit Mitte 1942 propagierte das Regime zunehmend - ein ungefähres Wissen
um die "Endlösung" voraussetzend - und ganz offen, dass im Falle
einer Niederlage in diesem Krieg die Juden den Deutschen das Gleiche zufügen
würden, was diese ihnen angetan hatten. Ein unbestimmtes Gefühl, dass die
"Judenfrage" mit dem Fortgang des Krieges und mit der Frage des
eigenen Überlebens verbunden sei, war offenbar weit verbreitet." (S. 325)
Diese Botschaft des Regimes...sei von der Bevölkerung durchaus verstanden
worden. Gleichzeitig habe sich die Bevölkerung mehrheitlich offenkundig gegen
die Vorstellung einer kollektiven Haftung für die verübten Verbrechen
gesperrt. "Je wahrscheinlicher diese Niederlage wurde, desto größer war
das Bedürfnis, sich dem Wissen über das offensichtlich vor sich gehende
Verbrechen zu entziehen und sich in ostentative Ahnungslosigkeit zu
flüchten" (ebd.) Diese Tendenz habe sich 1943 noch verstärkt, als das
Regime seine bisherige Propaganda abänderte. "Denn nachdem das Deutsche
Reich in die Defensive geraten war, musste die Beschwörung der "jüdischen
Weltverschwörung" als "Kitt" der heterogenen Feindkoalition
vorhandene Ängste noch verschärfen....Hatte das Regime zwischen Spätsommer
1941 und Frühjahr 1943 auf den deutlichen Unwillen der Bevölkerung in der
"Judenfrage" mit verstärkter antisemitischer Propaganda reagiert und
sich immer offener zur Vernichtung und Ausrottung der Juden bekannt, so wurde
die "Endlösung" ab Mitte 1943 mehr und mehr zum Un-Thema." In
dieser von Angst - sowohl vor der "jüdischen Rache" als auch vor
Erörterung der zum Tabu gewordenen "Endlösung" - erfüllten
Atmosphäre der zweiten Kriegshälfte sei die Bevölkerung offenbar mehr oder
weniger unwillig gewesen, sich weiterhin mit Details der "Judenfrage"
zu befassen. "Damit hätte man sich eingestehen müssen, dass der
Massenmord an den Juden ein Jahrhundertverbrechen darstellte, dass sich
wesentlich von den an anderen verfolgten Gruppen und unterjochten Völkern
verübten Verbrechen unterschied. Zwischen Wissen und Unwissen gab es also eine
breite Grauzone, gekennzeichnet durch Gerüchte und Halbwahrheiten...,
Nicht-Wissen-Wollen und Nicht-Begreifen-Können. Die Tatsache, dass das Thema in
den letzten beiden Kriegsjahren eine wesentliche geringere Rolle in der
Propaganda des Regimes wie in der Deutschlandpropaganda der Alliierten spielte
als im Zeitraum 1942 bis Mitte 1943, beförderte die Tendenz zur Verdrängung
noch. Die einfachste und vorherrschende Haltung war daher sichtbar zur Schau
getragene Indifferenz und Passivität gegenüber der "Judenfrage" -
eine Einstellung, die nicht bis bloßem Desinteresse an der Verfolgung der Juden
verwechselt werden darf [wie es etwa Kershaw bilanziert hatte, B.N.], sondern
als Versuch gesehen werden muss, sich jeder Verantwortung für das Geschehen
durch ostentative Ahnungslosigkeit zu entziehen. Es scheint, als habe die nach
Kriegsende zur stereotypen Floskel gewordene Redewendung, man habe
"davon" nichts gewusst, ihre Wurzeln in eben dieser
Verweigerungshaltung der zweiten Kriegshälfte: in der Flucht in die
Unwissenheit" (S. 327/28)
Dies sind die zentralen Thesen des Buches. Im Gegensatz zu Kershaw und Kulka
wird die weitgehende Indifferenz der Bevölkerung gegenüber der Judenverfolgung
und -vernichtung hier also nicht mit Gleichgültigkeit oder gar schweigender
Zustimmung zu den Maßnahmen erklärt, sondern - in Anlehnung an eine Studie von
David Bankier aus dem Jahre 1995 mit dem "Unwillen der Menschen, "ihre
Beteiligung am Begehen von Unrecht zuzugeben... um als angeblich Unwissende
gegen Vergeltung und Rache gefeit zu sein." (S. 16)
Insbesondere in der systematische Auswertung der in NS-Deutschland erschienenen
Zeitungen, die erstaunliche Diskrepanzen aufzeigen, und der - oben erwähnten -
umfangreichen Hinzuziehung neuer, bislang unbekannter Quellen aus dem
Propagandaministerium von Goebbels, liegt der Wert der vorliegenden Studie.
Fazit
Volker Ullrichs Fazit kann m.E. daher uneingeschränkt zugestimmt werden. Es
handelt sich bei dieser Studie um den bislang besten und aktuellsten
Forschungsbeitrag zu diesem Thema, der die Auszeichnung als eines der
wichtigsten historischen Sachbücher des Jahres 2006 wie kaum ein anderes m.E.
verdient hat. Unbedingt lesen!
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 21. November 2006 2006-11-21 20:20:51