Der Debütroman des 1962 in London geborenen James Meek ist in mehrfacher
Hinsicht außergewöhnlich - und absolut empfehlenswert! Das gilt allerdings
nicht für empfindliche Gemüter!
Bereits die erste Szene transportiert den Leser unwillkürlich mitten hinein in
eine ungewöhnliche Geschichte, die ihn sofort erkennen lässt, dass es in
diesem Roman nicht nur um "die einsamen Schrecken der Liebe", sondern
auch um ganz anders geartete Schrecken gehen wird.
Die Liebe zu ihrem im Ersten Weltkrieg verschollen geglaubten Mann verschlägt
die schöne Anna Petrowna und ihren kleinen Sohn in das sibirische Städtchen
Jasyk irgendwo zwischen Omsk und Krasnojarsk in der sibirischen Tundra. In dem
kleinen Ort lebt die - historisch verbürgte - Sekte der Skopzen. Es handelt
sich um radikale Pazifisten, die fest daran glauben, durch Kastration und
Genitalverstümmelung schon im irdischen Leben zu Engeln werden zu können.
Es ist die Zeit der Postrevolution, die selbst das Leben in der kleinen Stadt
beeinträchtigt, obwohl die Oktoberrevolution bislang nicht zu ihr vorgedrungen
ist. Ein unheimlicher Fremder, der durch Schnee und Eis aus einem
Gefangenenlager im hohen Norden bis nach Jasyk geflohen ist, bringt die Steine
ins Rolle - und die eigentliche Geschichte in Fluss.
Der entflohene Sträfling Kyrill Iwanowitsch Samarin hat eine dunkle
Vergangenheit und verfolgt ein ureigenes Ziel. Als er nach Jasyk kommt, erweckt
er sogleich das Misstrauen des Militärs. Die Russin Anna Petrowna, die im Dorf
durch ihre Beziehung zu einem Major der Weißen Armee einen gewissen Schutz
genießt, bietet sich an, den Fremden bei sich aufzunehmen. Schon bald verliebt
Anna sich in den geheimnisvollen Samarin, ohne auch nur im geringsten zu ahnen,
wem sie Obdach und Herz gewährt.
Meek entrollt und verknüpft die Geschichten seiner Protagonisten mit betonter
Langsamkeit. Wie beim Schälen einer Zwiebel wird Haut um Haut gelöst, bis man
sich allmählich dem Kern nähert. Und so stößt der Leser - getragen von einem
gelassenen und dennoch spannenden Erzählfluss - erst spät auf die Wahrheit und
erfährt, was es mit Anna Petrowna und ihrem verschollen geglaubten Mann, mit
dem Flüchtling Samarin, dem tiefgläubigen Gemeindevorsteher Balschow, mit dem
tschechischen Leutnant Josef Mutz und den tiefgläubigen Dorfbewohner auf sich
hat...
Fazit
James Meek erzählt mit großem Geschick und bedient sich einer höchst
poetischen, klaren Sprache, die an die großen russischen Erzähler erinnert. Er
führt die Leser behutsam und zugleich mit großer Zugkraft an die Geheimnisse
seiner Helden heran. An Geheimnisse, bei denen es um Glauben, Vertrauen, Macht
Missbrauch, Einsamkeit und nicht zuletzt auch um die Schrecken der Liebe geht...
Vorgeschlagen von Heide John
[Profil]
veröffentlicht am 15. Oktober 2006 2006-10-15 17:19:30