"Schuld und Sühne" ist meines Erachtens Dostojewskis Meisterwerk. Die
Geschichte des Studenten Rodion Raschkolnikow, der eine alte Wucherin und ihre
Schwester tötet, weil er sich zu den "Auserwählten" zählt, denen
solche Taten erlaubt seien und der mit dieser Tat nicht fertig wird und durch
den Einfluss der Prostituierten Sonja Marmeladowa dazu gebracht wird, seine Tat
durch Strafe zu sühnen, ist zu recht Weltliteratur. Rodion Raschkolnikows
Einfluss ist in vielen Werken der Gegenwart, etwa
Camus: "Der Fremde" zu
spüren. Literaten wie
Stefan
Zweig ("Drei Meister") oder
Thomas Mann ("Russische
Anthologie") haben sich mit Dostojewski, seinem Leben und Werk
auseinandergesetzt. Der Aufbau-Verlag zitiert Thomas Mann: "Ist Tolstoi der
Michelangelo des Ostens, so darf man Dostojewski den Dane dieser Sphäre nennen.
Er war in der Hölle - zweifet man daran, nachdem man den herzzermalmenedn Traum
gelesen, den Rodion Rasklnikow träumt, bevor er die alte Pfandleiherin
erschlägt?"
Dieses äußerst spannende Werk dient aber auch als hervorragende Einführung in
das Gesamtwerk Dostojewskis. Die vorliegende Ausgabe enthält 707 Seiten, es ist
also das mit Abstand "kürzeste" der fünf Romane des Autors. Es
dokumentiert auch deutlich seine Wandlung vom Sozialisten (vgl. seinen
Erstlingroman: "Arme Leute") zum gläubigen Christen. In späteren
Werken, etwa den "Brüdern Karamasow", nähert er sich schließlich
den russischen Slawisten Aleksej Stanovic Chomjakow (1804-60) an. Seine Polemik
insbesondere gegenüber dem "Westler" Turgenjew wurde insbesondere in
den "Dämonen" rigoros ausgetragen. Diese - für mich bedauernswerten
- Züge der späteren Intoleranz sind in diesem Werk glücklicherweise nicht
vorhanden. Deutlich wird jedoch schon hier, dass Dostojewski sein Leben lang ein
"Suchender" gewesen ist, immer nach Erlösung ringend (er litt an
schwerer Epilepsie und Angstzuständen). Auf diesen Sachverhalt hat Stefan Zweig
als einer der Ersten dankenswerterweise hingewiesen. Und ein Suchender ist auch
Raschkolnikow - der am Ende durch den Glauben zu Erlösung findet - wie
Dostojewski am Ende (man vergleiche seine fulminante Rede zur Enthüllung des
Puschkin-Denkmals am 8. Juni 1880, ein halbes Jahr vor seinem Tode) auch.
Mich hat Dostojewskis Werk und "Schuld und Sühne" schon immer (ich
las es als Zwanzigjähriger) fasziniert und ich konnte diesem Buch immer wieder
neue Aspekte abgewinnen. Insbesondere der psychologische Falkenblick, mit dem er
in seinem Werk immer aufs Neue Grundfragen der menschlichen Existenz erörtert
und - insbesndere in "Schuld und Sühne" die menschlichen Abgründe
fast diabolisch "erspürt" (man vergleiche etwa die meisterhaften drei
Dialoge zwischen Raschkolnikow und dem Untersuchungsrichter Porfiri, die zu den
besten psychologischen Gesprächen der Weltliteratur gehören), ist meines
Erachtens unvergleichlich.
Fazit
Wenn man mich fragte, welche Werke ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde,
so gehörte Dostojewskis "Schuld und Sühne" sicherlich dazu.
Allerdings vermisse ich an der vorliegenden Ausgabe des Aufbau-Verlages ein
Namensregister. Auch das Nachwort ist - im Vergleich zu anderen deutschen
Ausgaben, etwa des Piper- oder des Insel-Verlages, sehr dünn geraten. Insofern
kann ich Literaturinteressierten nur zu den genannten Ausgaben oder der
DTV-Dünndruckausgabe raten, jedoch nicht zu der - meines Erachtens lieblos
editierten - vorliegenden Ausgabe.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 06. Februar 2003 2003-02-06 08:14:59