In London schreibt man das Jahr 1330. Vor drei Jahren kam mit Edward III. ein
junger, ehrgeiziger König an die Macht. Getrieben von diesem Ehrgeiz, wird er
sich in das militärische Abenteuer eines Krieges mit Frankreich werfen, um die
französische Königskrone zu gewinnen - einen Krieg, den man später den
Hundertjährigen nennen wird.
Das ist eine ganz andere Welt als die, in der Jonah Durham heranwächst. Ein
verschlossener, wortkarger Waisenjunge, der bei seinem verhaßten Onkel Rupert
in die Lehre geht. Tuchhändler soll er werden, so hatte es Rupert Hillock
Jonahs Mutter versprochen. Daß er oder der Rest seiner Familie es Jonah leicht
machen sollte, nicht. Schläge, Essensentzug und die Launen von Stief- und
Großmutter hat Jonah zu erdulden.
An Talent mangelt es Jonah nicht, und auch nicht an Ideen. Doch der Lehrvertrag
und die strengen Regeln der Londoner Tuchhändlergilde lassen ihm nicht viele
Freiheiten. Sieben Jahre Gehorsam und Arbeit ohne Entgelt, nur ab und an
unterbrochen von Kirchgang, gelegentlichen Jungmänner-Abenden unter Aufsicht
des Gildenpriesters und den jährlichen Weihnachtsschauspielen.
London ist im 14. Jahrhundert eine Großstadt. Mönche und Büttel, Bettler und
Handwerker, Huren und Kaufleute aus aller Herren Länder drängen sich in den
engen Straßen und lärmigen Wirtshäusern. Das wirtschaftliche Leben wird von
den Gilden kontrolliert, die eifersüchtig ihre Monopole hüten. Die
Tuchhändlergilde gehört zu den einflußreichsten: Viel Gold haben die
Kaufleute damit gemacht, die Wolle der englischen Schafe zu exportieren und
kostbare Woll-, Leinen- und Seidenstoffe zu importieren. Geld, auf das gerade
der König angewiesen ist - aufwendige Hofhaltung und lange Kriegszüge
erfordern ständige Steuererhöhungen.
Im Gegenzug konnten die Londoner den Königen die Selbstverwaltung der Stadt
abtrotzen. An der Spitze der Büttel, Stadtwachen und sonstigen Beamten steht
ein Bürgermeister, den die Aldermen aus ihren Reihen wählen. Die Aldermen
ergänzen sich wiederum aus der Schar der einfluß- und erfolgreichsten Meister
der Gilden Londons, und auch in diesen Gilden gibt es eine lange
Hierarchieleiter, vom kleinen Lehrling bis zum Warden. Der hat nicht nur das
Recht, zusammen mit den anderen Oberhäuptern über Gildenangehörige zu
richten, er ist auch für die Gildenkasse zuständig, mit der in Not geratenen
Gildenmitgliedern geholfen werden kann.
Außerhalb dieser illustren Kreise stehen die Armen. Ohne Einfluß, oft genug
ohne Broterwerb, sind sie auf die Mildtätigkeit der Reichen angewiesen, auf
Almosen und Suppenküchen. Einige gehen dunklen Geschäften nach, brechen in die
Häuser der Reichen ein, fälschen Dokumente oder schneiden im Gedränge
Passanten die Geldbeutel ab. Meist enden sie am Galgen, wenn sie nicht zuvor in
den stinkigen Gefängnissen der Stadt krepieren. Andere widmen sich dem Laster,
Sauferei, Hurerei und Glücksspiel, die dem sündigen London den Beinamen
"purpurne Stadt" gegeben haben.
Inmitten dieses wimmelden, matschigen, lärmenden Chaos beginnt Jonahs steiniger
Aufstieg. Wie schon seine Vorgänger Robin of Waringham und Caedmon of Helmsby
("Das Zweite Königreich") läßt Rebecca Gablé ihn Bekanntschaft
machen mit den Großen und Prominenten seiner Zeit, aber auch tiefes Unglück
kennenlernen, Zeuge bedeutender Ereignisse und vieler Kleinigkeiten werden, die
zufälligerweise bis in unsere Tage überliefert wurden. Zu Jonahs Leidwesen
(und zur Freude des Lesers) verläuft die Karriere des Kaufmanns viel steiniger,
wendungs- und abwechslungsreicher, als sich das der kühle Rechner so gedacht
hat...
Ein strahlender Held in schimmernder Rüstung wollte Jonah Durham nie werden,
dafür ist er viel zu sehr Kaufmann. Seinen Zeitgenossen wäre er ungewöhnlich
innovativ und aufgeschlossen vorgekommen, als ein ausgesprochen gutherziger und
ehrenhafter Mann mit untadeligem Sinn für Gerechtigkeit.
Weit mehr als seine Vorgänger bleibt Jonah aber Kind seiner Zeit: Seine
Lehrlinge und Kinder zu schlagen, ist für ihn so selbstverständlich wie die
uneingeschränkte Autorität, mit der er über Familie und Angestellte herrscht.
Rachsüchtig verfolgt er eine alte Familienfehde bis auf die letzten Seite,
sieht bei allen Unternehmungen auf seinen Vorteil und scheut sich nicht, auch
mit der Not anderer Geld zu machen. Geschäftssinn und harte Arbeit prägen sein
Leben, das ihm die Autorin des öfteren schwer macht, und selbst seiner
größten Leidenschaft, der Schauspielerei, fröhnt Master Durham nur so weit,
wie es mit seinem nüchternen Pragmatismus vereinbar ist.
Diese Seiten machen den Londoner Kaufmann nicht nur historisch glaubwürdig,
Durham wirkt mit all seinen Widersprüchen und Schwächen ausgesprochen
menschlich und lebendig. Es ist kein edler Ritter ohne Furcht und Tadel, für
den die Autorin uns Leser zu interessieren weiß, wir können mit einem Menschen
mitfiebern, wie er wirklich gelebt haben könnte.
Durhams Leben ist nur eine erfundene Geschichte, aber ähnliche Menschen haben
in seiner Zeit ähnliches erreicht. Geschickt verbindet Gablé ihre Fiktion mit
wahren Ereignissen, urkundlich belegten Details des Londoner Alltags und den
Schicksalen historischer Persönlichkeiten. Am Ende hat der Leser nicht nur
einen spannenden Roman durchgeschmökert, sondern auch viel über die Menschen
aus einer Zeit erfahren, die in einem Monat sehr vertraut erscheinen, im
nächsten aber exotisch und fremd.
Die Erzählung endet in den Tagen der Großen Pest, die 1348/49 ein Drittel der
Menschen Europas dahinraffte, ganze Landstriche wüst und verlassen hinterließ
und das Ende einer Epoche einläutete, die Gablé kenntnisreich und meisterhaft
spannend in einem Roman verpackt hat.
Der Verlag hat den "König der Purpurnen Stadt" mit einer Farbkarte
des damaligen Londons, mehreren gelungenen Illustrationen und einem
Lesezeichen-Faden versehen. Der Band ist stabil genug, um auch eine längere
Reise durch den Bekanntenkreis zu überstehen.
Mit dem "König der purpurnen Stadt" hat Rebecca Gablé sich nochmals
gesteigert und einen hervorragenden Historienromane vorgelegt. Der Leser wird
prächtig und spannend unterhalten, Geschichte und Fiktion sind glaubwürdig
verwoben, und wer will, kann eine Menge Spannendes über das Mittelalter lernen,
ohne sich belehrt zu fühlen.
Fazit
Wer fürs Mittelalter und historische Romane etwas übrig hat, sollte sich
diesen Roman zulegen. Wenn möglich, an einem Freitagabend - und am Montag
sollte nichts auf dem Plan stehen, das sich nicht mit einem langen, schlaflos
durchgeschmökerten Wochenende vereinbaren läßt... Bestnote!
Vorgeschlagen von Andreas P. Rauch
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veröffentlicht am 27. Januar 2003 2003-01-27 17:42:23