Im Jahre des Herrn 1933 landete ein UFO in der Reichshauptstadt Berlin. Ihm
entstiegen kleine braune Männchen, die mit ihrer dämonischen Ausstrahlung ein
ganzes Volk von Widerstandskämpfern zwölf Jahre lang unterdrücken konnten.
1945 verschwanden dann die kleinen braunen Männchen wieder spurlos ins All, und
die entsetzten Widerstandskämpfer bemerkten, daß die kleinen braunen Männchen
sechs Millionen Juden umgebracht hatten.
Daß daran wenig stimmt außer der (geschätzten) Zahl von sechs Millionen
ermordeten Juden (und wen die Nazis dafür hielten), sollte sich mittlerweile
herumgesprochen haben. Die Verfolgung der Juden geschah nicht heimlich, dem
Holocaust gingen lange Jahre der öffentlichen Ausgrenzung und Erniedrigung
hervor, die vorerst in Judensternvergabe und "Reichskristallnacht"
gipfelten. Daß die KZs keine Erholungslager waren, verkündete die
gleichgeschaltete NS-Presse seit deren Errichtung. Und auch wenn ein großer
Teil der Deutschen, vermutlich die Mehrheit, mit den Nazis und ihren Zielen nur
begrenzt oder - seltener - gar nicht sympathisierte, blieb Widerstand selten,
vereinzelt und unwirksam.
Wie es dazu kam, daß "Teile der deutschen Eliten und Massen deutscher
Normalbürger sich dafür entschieden, das kritische Denken einzustellen und
sich stattdessen mit Haut und Haar einer Politik zu verschreiben, die auf
Glaube, Hoffnung, Hass und einem sentimentalen Kollektivstolz auf die eigene
Rasse und Nationalität basierte" (M. Burleigh), ist nur schwer
nachzuvollziehen. Erschwert wird es im deutschen Sprachraum durch ein Tabu:
Selten wird ausgesprochen, daß der Antisemitismus, der im Holocaust gipfelte,
eine Geschichte hat.
Es ist die Geschichte des Christentums.
"Sie (das 'ganze Volk') schrien aber noch mehr und sagten: Laß ihn
kreuzigen! (...) Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" (Matt. 27,
25)
"Die Juden" hätten Jesus ans Kreuz schlagen lassen, den Messias, den
Christus, und sich mit Absicht und im vollen Bewußtsein der Folgen selbst
verflucht: Diese Legende ist Teil der christlichen Überlieferung, kaum eine
Osterpredigt kommt ohne Zitierung der Passionsgeschichte aus.
Überliefert ist die Geschichte nur in den christlichen Evangelien, die lange
Zeit nach den Ereignissen entstanden sind, nicht von Augenzeugen stammen und
sich allesamt als historisch höchst unzuverlässig erwiesen haben. Es ist nicht
der einzige antisemitische Ausfall im Neuen Testament: 450 Verse mit
"eindeutig antijüdischer Polemik" zählte der Bibelkundler Norman A.
Beck allein in den vier biblischen Evangelien und der Apostelgeschichte.
Das Christentum hätte das Judentum abgelöst. Wenn sich Juden nicht zum
Christentum bekehrten, dann wendeten sie sich vom Sohn Gottes und damit von Gott
selbst ab, sie mußten also vom Teufel verführt sein: so die Logik der
frühchristlichen Schreiber. Der Schritt vom Vorwurf der Abkehr zum Vorwurf des
Gottesmordes war da nicht weit.
Die Juden warteten auf einen Messias, wenn sie ihn nicht anerkannten,
behaupteten sie damit, daß das Christentum auf einem Irrtum beruhte: Es ist
dieser unausgesprochene Vorwurf, der erklärt, warum die Juden der Kirche über
die Jahrtausende ein Dorn im Auge blieben. Man grenzte sie ab, verpflichtete sie
per Konzilsbeschluß zum Tragen besonderer Abzeichen, nahm ihnen Sondersteuern
ab, entrechtete sie, ließ sie gelegentlich zwangstaufen - all das nur, um sie
endlich zur "Umkehr", zur Annahme des "wahren Glaubens" zu
bewegen. Das Elend, in dem die meisten Juden lebten, wurde dann als
"Beweis" für ihre "Verworfenheit" gedeutet; Elend, das
Christen zustieß, als "Beweis" für zu viel Geduld mit den Juden
gedeutet.
Es kann da kaum verwundern, daß sich der Volkszorn mit unschöner
Regelmäßigkeit an den Juden austobte: 7 Millionen Juden, schätzt man, kamen
bei Pogromen von der Spätantike bis 1933 um. Kirchenfürsten lag meist mehr an
ihrer Bekehrung, und so wurden die Lynchmorde bedauert, für mehr als ein
achselzuckendes Bedauern hat es aber selten gereicht. Im Gegenteil, als in der
Neuzeit die Juden überall in Europa allmählich gleiche Staatsbürgerrechte
erhielten, waren es die Kirchen, aus deren Reihen der größte Widerstand
dagegen kam: Es war der vatikanische Kirchenstaat, in dem die Juden noch bis
weit ins 19. Jahrhundert hinein in einem Zwangsghetto leben mußten.
"Wenn aber die Wahrheit Gottes durch meine Lüge herrlicher wird zu seinem
Preis, warum sollte ich dann noch als ein Sünder gerichtet werden?" (Röm.
3, 7)
Ohne diese jahrtausendelange Hetze der katholischen Kirche hätte der Holocaust
nicht stattgefunden, das ist einer der Thesen von Daniel Jonah Goldhagens neuem
Buch, "Die katholische Kirche und der Holocaust". Das schmälert nicht
die Mitschuld des wortgewaltigen Antisemiten Luthers und seiner Anhänger, und
verringert nicht die Schuld der Nazis. Trotzdem: Ohne katholische Antisemitismus
kein nationalsozialistischer.
Die These klingt spektakulär, läßt sich aber leicht belegen: Bis in die
jüngste Vergangenheit gab es nur im christlichen "Kulturraum"
antisemitisch motivierte Übergriffe auf Juden. Weder in Indien noch (bis vor
einigen Jahrzehnten) in islamischen Ländern wurden die Juden jemals annähernd
in der Art verfolgt wie in den Ländern, in denen die christliche Kirche
"segensreich" gewirkt hatte. Dort, wo der nicht-lutherische
Protestantismus mit der antisemitischen Tradition brach, wurde und blieb der
Antisemitismus eine Randerscheinung - beispielsweise in den USA.
Goldhagens weitere Kernthesen gehen aber über eine reine
Holocaust-Vorgeschichten-Schreibung hinaus: Die katholische Kirche habe zudem in
den 30ern und 40ern weitestgehend mit den Nazis kollaboriert. Ihre wenigen
Proteste seien zaghaft gewesen, verspätet und hätten hauptsächlich auf den
Erhalt des eigenen Rufes abgezielt. Nach dem Krieg habe die katholische Kirche
einzelne christliche Widerstandskämpfer für den Aufbau eines Mythos vom
allgemeinen Widerstand der Kirchen mißbraucht. Sie habe den Antisemitismus in
ihren Lehren nur unzureichend bekämpft. Eine moralische, politische oder gar
finanzielle Wiedergutmachung habe sie nur unzureichend betrieben.
Goldhagens neuestes Schrift ist kein Geschichtsbuch, und es will auch keines
sein. Eine vollständige Geschichte der katholischen Kirche in der Zeit des
Nationalsozialismus' sei derzeit auch noch nicht möglich: Bis heute verweigert
die katholische Kirche Historikern den Zugang zu den entscheidenden Dokumenten
aus dieser Zeit. Die erst kürzlich kirchlicherseits eingesetzte
Historikerkommission schmiß aus Protest das Handtuch, weil ihr weite Teile des
Archivs vorenthalten blieben.
Über die Gründe mag man spekulieren. Das, was an Dokumenten bekannt geworden
ist - und das ist auch schon reichlich -, wirft ein denkbar schlechtes Licht auf
die Kurie und ihren damaligen Chef, Eugenio Pacelli (als "Pius XII."
Papst von 1939-1958). Trotzdem wird derzeit die Seligsprechung dieses Papstes
betrieben: Sein Leben und seine Taten sollen also kirchlicherseits als
"vorbildlich" anerkannt werden.
"Wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden" (Mk. 16, 16)
Goldhagen greift nicht nur die schiefe Darstellung dieses Papstes an, er geht
der gesamten Selbstdarstellung der katholischen Kirche als Opfer und Gegner des
Nationalsozialismus' auf den Grund. Diese "Klärung des Verhaltens"
macht dabei nur das erste Drittel des Buches aus.
Das Ergebnis ist niederschmetternd: Nicht nur, daß die katholische Kirche lange
und erfolgreich mit den diversen faschistischen Regimen in Europa
zusammengearbeitet hat, mit Mussolinis Italien, Francos Spanien, Dollfuß'
Österreich, dem Ustascha-Kroatien oder Tisos Slowakei. Nicht nur, daß alle
führenden Kirchenfürsten die Machtergreifung der Nazis ausdrücklich bejubelt
hatten, ihnen vermittels des Reichskonkordats früh internationales Ansehen
verliehen und die Verfolgung Andersdenkender hinnahmen.
Obwohl sie gut und detailliert über das Schicksal der Juden informiert war,
blieb Protest aus. Antisemitische Ausfälle in Lehre, Predigten und
öffentlichen wie quasi-öffentlichen Verlautbarungen waren keine Seltenheit,
die antijüdischen Gesetze Mussolinis wurden ausdrücklich begrüßt.
Protest gab es, den allerdings fast ausschließlich zugunsten der eigenen
Anhänger und der eigenen Machtbasis. Die Ehe war der Kirche heilig, die
geforderte Auflösung von Ehen zwischen Katholiken und Juden stieß daher auf
Protest, wie auch die Verfolgung von "Juden", die getauft und damit -
nach katholischer Ansicht - keine mehr waren.
Der katholische "Widerstand" gegen den Holocaust entpuppt sich fast
durchgehend als bewußt aufgebaute Legende: Was es an Protesten gab, blieb
zweideutig, versteckt, unentschlossen. In aller Regel kam er sehr spät, lange
nachdem die Niederlage der Achsenmächte abzusehen war. Oft genug lassen sich
Hinweise finden, daß man kirchlicherseits hauptsächlich um den eigenen Ruf
besorgt war. Selbst vor der Einvernahme von Toten schreckte man nicht zurück:
Die Katholikin Edith Stein, die vom Judentum übergetreten war und eben wegen
dieser "jüdischen Abstammung" ermordet wurde, wurde zur Märtyrerin
umgeschrieben.
Nach dem Ende der Nazi-Diktatur wurde die katholische Kirche allerdings aktiver,
verhalf hochrangigen Nazis zur Flucht vor den Alliierten und protestierte
energisch gegen die Nürnberger Prozesse.
Goldhagens Darstellung baut auf den Arbeiten anderer Historiker auf, und nur
sehr begrenzt direkt auf Quellen. Im Detail wird er ungenau, und eine falsche
Bildunterschrift verschaffte der katholischen Kirche dann auch einen Hebel, um
die weitere Auslieferung des Buches verbieten zu lassen (was vermutlich auf eine
Schwärzung der Stelle in der 2. Auflage hinauslaufen wird). Nicht, daß die
Darstellung nicht weitgehend richtig und nachvollziehbar wäre: Für ein
Sachbuch reicht es, als fachhistorische Darstellung wäre es ungenügend. Daß
sich Goldhagens Kritiker auf eine Handvoll Schnitzer werfen werden, um nicht auf
die zentrale Frage der Schuld der Kirche und ihrer Vertreter eingehen zu
müssen, war voraussehbar - hier wäre mehr Sorgfalt zu erwarten gewesen.
"Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie herrschen
sollte, bringet her und macht sie vor mir nieder" (Lk 19, 27)
Die historisch exakte Darstellung überläßt Goldhagen anderen: Daß die
katholische Kirche sich ihrer Vergangenheit endlich stellen solle und diese
Forschung unterstützen, ist nachgerade eine seiner wichtigsten Forderungen.
Bevor er aber die Frage einer Wiedergutmachung anspricht, geht es ihm um das
Maß der Schuld: Die Kirche hat kollaboriert, einzelne (auch hochrangige)
Mitglieder haben selbst beim Holocaust Hand angelegt, aber in wie weit haben
sich Papst, Bischöfe, Klerus oder die Mehrheit der Gläubigen schuldig gemacht?
Was waren ihre Motive?
Zwang alleine kann es nicht gewesen sein. In ganz Europa gab es Proteste gegen
Verfolgungen, auch gegen die von Juden, auch von Kirchen. In mehreren Fällen
hatten sie damit Erfolg, so in Dänemark, wo bis Kriegsende kaum ein Jude
deportiert wurde. Wo der Widerstand öffentlich und organisiert auftrat, blieben
die Konsequenzen für die einzelnen meist gering. Der Vatikanstaat konnte sich
aber auch dann nicht zu einer eindeutigen Verurteilung hinreißen lassen, als
Rom längst von den Alliierten besetzt worden war.
Natürlich blieb die Angst vor Repressionen: Nicht, daß je ein deutscher
Bischof ins KZ geschickt worden wäre. Immer wieder wurden staatlicherseits
kirchliche Privilegien beschnitten, auf altangestammte Rechte übergegriffen. Es
lag in der Logik der Nazi-Ideologie, keine Macht neben sich zu dulden, und so
sollten auch die Kirchen nach einem gewonnenen Weltkrieg als Machtfaktor
ausgeschaltet werden. Sofern Kirchenangehörige das erkannt haben sollten, hat
es trotzdem nur in wenigen Fällen zu konsequenter Gegnerschaft gegen das
Nazi-Regime (statt nur zur NS-Kirchenpolitik) geführt.
Uninformiertheit kann es auch nicht gewesen sein: Wie kaum ein anderer hatte die
Kurie Zuträger in allen Ländern Europas, ihre Priester betreuten
Wehrmachtssoldaten und SS-Leute, wurden häufig Augenzeuge der Greuel.
Bleibt nur: Unwille. Der kirchenoffizielle Antisemitismus zielte nicht auf die
Vernichtung der Juden ab, sondern auf ihre Bekehrung, und darin unterscheidet er
sich vom Nationalsozialismus. (Wobei zahlreiche Kleriker zweifellos die
Ausrottungsideologie mittrugen). Insbesondere die Verfolgung ihrer eigenen (vom
Judentum übergewechselten) Mitglieder nötigte die Kirche immer wieder zu
scharfem Protest - der oft genug fruchtete, besonders bei den
NS-Marionettenregimen.
Trotzdem schien die Verfolgung derer, die man über lange Jahrhunderte selbst zu
Erzfeinden verteufelt hatte, für den Vatikan eher eine lästige
Begleiterscheinung gewesen zu sein. Die Abschaffung von Demokratie und
"Liberalismus" in Deutschland stand völlig im Einklang mit
Kirchenlehren, die beides zu Todsünden erklärt hatten. Der Kampf gegen den
"Sittenverfall", auch gegen die laxe Haltung der Weimarer Republik
gegenüber Homosexuellen, einte Klerus und Nazipropagandisten. Den Ausschlag
dürfte aber der gemeinsame Erzfeind, der atheistische
"Bolschewismus", gegeben haben: Der Krieg gegen die UdSSR wurden
kirchlicherseits laufend und vorbehaltlos öffentlich gutgehießen.
Damit sind wir bei Goldhagens zentraler These zur Schuld der katholischen
Kirche: Ihre Verantwortlichen wußten von Judenverfolgung und Holocaust.
Abgesehen von der physischen Vernichtung der Verfolgten hielten sie die meisten
Maßnahmen öffentlich für gut, oder distanzierten sich nicht eindeutig davon.
Angesichts zweier Übel - des die eigene Machtbasis bedrohenden
Sowjetkommunismus' und der Judenverfolgung - entschieden sich die
Verantwortlichen bewußt und konsequent, zu letzterem zu schweigen (bis auf
verspätete Alibi-Aktionen), um die Bekämpfer der scheinbar größeren
Bedrohung zu stützen.
Weniger verklausuliert: Die meisten Verantwortlichen der katholischen Kirche
haben aus ideologischer Nähe und Machtinteressen heraus intensiv, wenn auch
nicht vorbehaltlos kollaboriert.
"Die Juden aber, die ungläubig blieben, erregten und entrüsteten die
Seelen der Heiden wider die Brüder" (Apg. 14, 2)
Wie eine mögliche Wiedergutmachung aussehen könnte, diskutiert Goldhagen im
verbliebenen Drittel seines Buches.
Wenig Raum nimmt die materielle Wiedergutmachung ein: es geht ihm nicht um Geld.
Es geht ihm um moralische und politische Wiedergutmachung: Um das Eingeständnis
der Mitschuld, um den konsequente Widerruf antisemitischer Lehren, und um die
Verhinderung künftiger Wiederholung.
Goldhagen betont laufend, daß es nicht die katholische Kirche allein ist, die
hier Schuld trägt. Die Mitschuld der protestantischen Kirchen, die mehr aus
Gründen des Buchumfangs nur eine Nebenrolle spielen, betont er ausdrücklich.
Und er führt positive Beispiele an: Die nordamerikanischen Lutheraner haben
sich ausdrücklich von Luthers Antisemitismus distanziert und dessen historische
Mitschuld anerkannt. Die evangelische nordelbische Kirche hat im neuen
Jahrtausend eine Wanderausstellung gestartet, in der sie ausdrücklich und
ausführlich aufarbeitet, in welch erschreckendem Maße sich Pfarrer, Bischöfe
und Laien mit den Nazis eingelassen haben. (In diesem Fall: Bis zum Betreiben
eines - kurzlebigen - KZs.)
Auf katholischer Seite ist das Zweite Vatikanische Konzil zu nennen: Aus der
Lehre wie aus der Liturgie wurden antisemitische Passagen gestrichen (wie die
scheinheilige Fürbitte "für die perfiden Juden"). Karol Woytila
(Künstlername "Johannes Paul II.") hat es sogar geschafft, als erster
(!) Papst die römische Synagoge zu besuchen, und sogar Abbitte zu leisten, ein
"mea culpa", für einzelne Kirchenangehörige, die im Übereifer
Einzelnen Unschönes angetan hätten.
Und dabei blieb es. Das kirchliche Eigenverständnis, nachdem das Judentum durch
das Christentum abgelöst wurde und damit seine Legitimation verloren hat, wurde
nicht aufgegeben. Nach wie vor sind antisemitische Vorurteile vor allem unter
kirchentreuen Christen virulent, ohne daß es seitens der Kurie eine
ernstzunehmende Kraftanstrengung gäbe, daran etwas zu ändern. Nach wie vor
bilden die Evangelien mitsamt ihren antisemitischen Ausfällen unkommentiert und
ungemildert die Grundlage der Lehre.
Anders als viele oberflächliche Kritiker, die "schlechte"
Kirchenpraxis gegen "gute" Bibellehre ausspielen, tippt Goldhagen hier
auf den Kern des Problems: Der Antisemitismus ist keine Randerscheinung des
Christentums, er ist kaum trennbar mit seinen zentralen Lehren und Schriften
verbunden.
Goldhagen bleibt hier optimistisch: Wenn es selbst Staaten wie dem offiziellen
Deutschland gelungen ist, sich konsequent und rigoros vom Antisemitismus zu
trennen, sollte auch die katholische Kirche die moralische Kraft dazu aufbringen
- so, wie es viele fortschrittliche Katholiken für sich schon geschafft
haben.
"Und es waren Pfaffen auf dem Felde, die hüteten des Nachts ihre
Pfründe" (frei nach Lk. 2,8)
Mit Verlaub, nicht nur, daß Goldhagen hier die bundesdeutschen Köche und
Möllemänner samt des von ihnen anvisierten Klientels ausgesprochen positiv
sieht: Er sieht sich auch die katholische Kirche ausgesprochen optimistisch. Und
er überschätzt den Einfluß, den selbst gutwillige Kirchenführer nehmen
könnten.
Was das Christentum so reizvoll macht, sind zwei zentrale Lehren: Zum einen ist
das die simple und psychologisch ungemein ansprechende Unterteilung der Welt in
ein gutes "Wir" und in ein böses "Die anderen". Zum anderen
gibt es das Versprechen der Unsterblichkeit für die "Wir"-Gruppe.
Die Beweislage für letzteres ist ziemlich dünn. Die ganzen Evangelien sind,
theologischer Lehrmeinung zufolge, nur entstanden, weil ein Frühchrist nach dem
anderen starb, ohne daß er, wie versprochen, gleich wiederauferstand. Daß das
Weltgericht, wie in den Evangelien versprochen, nicht binnen weniger Jahre nach
des Messias Abgang folgte, säht immer wieder (allzu berechtigte) Zweifel an der
Wahrheit der ganzen Geschichte. Daß der Glaube von wohlinformierten
Nicht-Heiden nicht geteilt wird, trägt auch nicht gerade zur Gewißheit bei.
Das ist insofern ein Problem, als daß das Christentum - viel stärker als etwa
das Judentum - das (Seelen-)Heil weniger von den guten Taten als vom richtigen
Glauben abhängig macht. Wer zweifelt, verwirkt vielleicht seine Eintrittskarte
ins Paradies.
Seine eigenen Zweifel auf die offenkundig Ungläubigen zu projizieren und diese
damit zu verteufeln, liegt nahe. Die Juden haben das über lange Jahrtausende
immer wieder erfahren müssen. Insgesamt stellen sie aber nur einen kleinen
Bruchteil der im Namen des Christentums Ermordeten dar, geschätzte 7 von
geschätzten 120 Millionen.
Seit das Christentum unter Konstantin Staatsreligion wurde, stellten
Übereifrige laufend ihren Glauben unter Beweis, indem sie ohnehin Verdammten
schon zu Lebzeiten einen Vorgeschmack auf die Hölle lieferten, die ihnen
ohnehin auf ewig drohen würde. So zahlreich die verbrannten Hexen, die
gemordeten Schwulen, Ehebrecherinnen und anderen Sexual-"Sünder" auch
sind - vermutlich die größte Opfergruppe des Christentums waren Christen, die
die jeweils offizielle Lehre infragestellten: Häretiker, Ketzer, je nach
Landstrich Papsttreue oder Papstuntreue.
Bis heute verstehen sich die Kirchen als Mittler einer ganz besonderen Lehre,
deren Versprechungen deshalb glaubwürdig sind, weil den Texten eine besondere
Autorität zukommt. Eine Relativierung dieses Anspruchs machen bestenfalls
einige Fachtheologen, kaum aber die meisten Kirchenoberen oder gar die Massen
der Gläubigen mit: Der moderne christliche Fundamentalismus mit seinem
buchstäblichen Bibelverständnis ist die Antwort auf eine moderne Theologie,
die zumindest streckenweise die Bibel und ihre Aussagen relativiert. Der
grassierende Abfall vom kirchenoffiziellen Christentum, der meist auf eine
Zuwendung zu anderen Heilslehren hinausläuft, eine andere.
In letzter Konsequenz fordert Goldhagen aber genau das: Nicht eine Veränderung
des Bibelwortlautes, aber die Erklärung, daß der letztlich für die Gläubigen
nicht verbindlich ist. Daß er das für möglich und die katholischen
Kirchenoberen dazu für willens hält, spricht für seinen guten Willen
gegenüber der katholischen Kirche. Für realistisch halte ich es nicht.
"Die Menschen müssen Rechenschaft geben am Tage des Gerichts von einem
jeglichen nichtsnutzigen Wort, das sie geredet haben" (Matt. 12, 36)
Goldhagen begreift den Holocaust als ein historisches Ereignis, das nicht mehr
und nicht weniger erklärbar ist als andere historische Ereignisse auch: Es gab
Ursachen, es gab Beteiligte, es gab Umstände, es gab Motive, und die kann man
nicht weniger offenlegen als in anderen Fällen auch.
Sofern es um die reine Geschichtsschreibung geht, überläßt Goldhagen die
Arbeit anderen, und er verläßt sich auf ihre Ergebnisse. Das macht ihn
angreifbar, und die deutschen Feuilletons haben genüßlich auch die ein oder
zwei nebensächlichen Fehler zerpflückt, derer sie habhaft wurden. Im ganzen
bleibt Goldhagen unnötig ungenau und oberflächlich, und das mindert den Wert
seiner Arbeit ungemein.
Die eigentliche "Untersuchung über Schuld und Sühne" (so der
Buchuntertitel) nimmt dagegen viel Raum ein und bleibt an der Oberfläche.
Korrekterweise beschreibt er die katholische Kirche als politische Institution,
die konsequenterweise (auch) von Machtinteressen geleitet wird. Zu wenig Raum
nimmt die Frage ein, worauf diese Macht beruht, und ob angesichts des
offiziellen Selbstverständnisses, nur der Vermittler einer göttlich
offenbarten (und damit: unhinterfragbaren) Wahrheit zu sein, ernsthafte Reformen
in der Lehre überhaupt möglich, geschweige denn: erwünscht sind.
Goldhagens Moralverständnis bleibt zudem unreflektiert, ziemlich unkritisch
werden strafrechtliche und fürs tagtägliche Miteinander anerkannte moralische
Maßstäbe auf Organisationen und politische Gebilde übertragen. Daß nicht
einzelne Verfolgte und ihre Angehörigen, sondern auch jüdische Organisationen
und der Staat Israel Anspruch auf Wiedergutmachung haben, ist zumindest nicht so
offenkundig und unstrittig, wie Goldhagen es darstellt.
"Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom
Übel" (Matt. 5, 37)
Etwas oberflächlich, ziemlich optimistisch: Goldhagens Buch wäre erheblich
besser gewesen, wenn er sich auf die Darstellung der Fakten beschränkt hätte
und die Urteilsbildung dem Leser überlassen hätte. Ungenauigkeiten und
mangelnde Quellennachweise sind Dinge, die einem Geisteswissenschaftler nicht
unterkommen sollten. Die Fixierung auf die katholische Kirche, statt eine
konsequente Betrachtung aller deutschen Kirchen, macht es "Kritikern"
einfach, ihn (fälschlich) als Antikatholiken zu verunglimpfen.
Dazu wirkt die Schreibe pedantisch, der Ton ist versöhnlich, das Buch macht
streckenweise einen geradezu erbaulichen Eindruck. Für polemische (und
treffende) Zuspitzungen reicht es leider nur da, wo Goldhagen mit einigen ...
eigenwilligen Kritikern seines ersten Buches abrechnet.
Fazit
Mit Konrad Riggenmanns "Kruzifix und Holocaust" gibt es ein Buch auf
dem deutschen Markt, das gründlicher und umfassender in der Darstellung ist,
die ganze Geschichte des Antisemitismus beleuchtet und sich auch noch erheblich
besser liest.
Goldhagens zweites Buch ist da nur zweite Wahl.
Vorgeschlagen von Andreas P. Rauch
[Profil]
veröffentlicht am 19. Januar 2003 2003-01-19 10:56:13