Chikakos Mutter hatte schon immer gefürchtet, dass andere über ihre Familie
schlecht denken könnten. Besonders sorgfältig mussten japanische Familien auf
ihren Ruf achten, die eine Tochter im heiratsfähigen Alter hatten.
"Welcher Mann will schon eine Frau heiraten, die laut spricht." gibt
sie ihrer Tochter zu bedenken. Die 16-jährige Japanerin von der Insel Shodo
arbeitet ohne technische Hilfsmittel als Perlentaucherin in der Seto-Inlandsee.
Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebt sie ein hartes, überschaubares
Leben, konzentriert auf ihre anstrengende Arbeit, Austern, Abalone und Seeigel
aus 40m Tiefe in einen auf dem Wasser treibenden Zedernholzbottich zu bringen.
Seit 15 Jahrhunderten haben stämmige, selbstbewusste Frauen diese gefährliche
Arbeit geleistet. Mit 19 Jahren verletzt Chikako sich an einem scharfen Felsen
und merkt, dass die Stelle gefühllos ist: die junge Frau hat Lepra. 1948 wird
sie auf die Insel Takashima verbannt, der Kontakt zu ihrer Familie verboten. Sie
muss ihren Namen ablegen und soll sich schämen für die Schande, die sie ihrer
Familie gebracht hat.
Die Krankheit schreitet nicht weiter fort, Chikako nennt sich nun Fräulein
Fuji, nach dem heiligen Berg, auf den ihr Onkel sie als 9-jährige mitgenommen
hatte. Wie 30 000 andere erkrankte Japaner lebt sie als Ausgestoßene, ihre
Arbeitskraft wird bei der Pflege anderer Kranker ausgebeutet.
Fräulein Fuji erduldet ihr eintöniges Leben, doch heimlich ist sie stets auf
der Suche nach kleinen persönlichen Freiheiten. Immer wenn auf der Insel mit
beinahe schüchterner Auflehnung an die Menschenwürde der Patienten erinnert
wird, ist Fräulein Fuji dabei.
Die Ungeheuerlichkeit der historischen Fakten verstärkt der Erzähler durch
akribische Beschreibung von Artefakten und Dokumenten aus der Geschichte der
Insel. Das Gleichmaß des abgeschiedenen Lebens könnte fast idyllisch scheinen
und so von der Tatsache ablenken, dass die Deportierten dort völlig unnötig
Jahrzehnte verbringen mussten.
Bis in die 50er Jahre hinein wurden in Japan Zwangssterilisationen und
Zwangsabtreibungen an Leprakranken durchgeführt, obwohl zu diesem Zeitpunkt
bekannt war, dass die bakterielle Erkrankung Lepra selten auf Ungeborene
übertragen wird. Die staatlich verordnete Quarantäne wurde erst 1996 beendet.
Ältere Kranke, die jahrzehntelang isoliert gelebt hatten, fanden nicht mehr in
ein normales Leben zurück. Ein ganzes Land hatte wider besseres Wissen seine
Kranken im Stich gelassen und verleugnet.
Fazit
Eng an historische Fakten angelehnt, hat der in Japan lebende Autor mit seiner
poetischen Erzählung den Opfern Gehör verschafft.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 18. Juni 2006 2006-06-18 14:02:58