Der Band "Kuss der Verdammnis" endete damit, daß Dilara ihrem
Geliebten Calvin versprochen hatte, ihm mehr von ihrer Vergangenheit zu
erzählen.
Das tut sie in dieser vorliegenden grossartigen Geschichte und berichtet von
einem einschneidenden Erlebnis im ausgehenden 19.Jahrhundert, welches sich bis
heute fest in ihre Erinnerungen gebrannt hat:
Wir finden uns im Herbst 1883 in dem Ort Avignon in Südfrankreich mitten in der
Provence wieder, genauer an einem festlichen Abend im Maison de Vervins. Dilara
und ihr treuer Diener Cippico weilen in diesem heimelichen Haus als Gäste einer
gewissen Mademoiselle Mayan.
Doch nicht zum Vergnügen sind die beiden hier abgestiegen, denn Antediluvian
hat wie so oft einen dringend Auftrag für die von ihm erschaffene Vampirin.
Zu allem Überfluss gerät Dilara mit Kyuzaemon, einem Diener Antediluvians
aneinander, der ebenfalls auf der Feier auftaucht, um ein Treffen mit der
Vampirin und seinem Meister zu arrangieren. Bei der anschliessenden
Zusammenkunft im Palais de Pape schärft Antediluvian seiner Artgenossin die
Dringlichkeit dieser neuen Aufgabe ein: sie soll ihm einige geheime Dokumente
aus dem Codex Vaticanus beschaffen. Ein riskantes Unterfangen, welches Dilara
zunehmend an dem Wohlwollen ihres Schöpfers zweifeln lässt. Dieser warnt sie
abschliessend vor dem Wesen Methalumina, eine Lichtgestalt, die allein durch
ihre Anwesenheit absolut tödlich für die Nosferati sein soll, sowie deren
angebliche Anhänger, die Rosenkreuzer.
Noch auf den Festlichkeiten trifft die Vampirin auf eine wunderschöne Frau
namens Gelophee Roche, zu der sich Dilara seltsamerweise sofort hingezogen
fühlt. Gelophee selbst warnt Dilara vor den Machenschaften und dem neuen
Auftrag Antediluvians, was die Vampirin dazu veranlasst, alles daran zu setzen,
hinter das Geheimnis dieser seltsamen Frau zu kommen.
All diese Ereignisse sind die Vorreiter zu einer abenteuerlichen Reise, die mit
allerlei Gefahren und tiefgreifenden Phasen der Selbstfindung gespickt ist.
Dilara beschliesst schon am kommenden Tag, nach Rom aufzubrechen, doch nicht
alleine - zusammen mit ihrem Diener Cippico hat sie Gelophee letztendlich zu
einer unfreiwilligen Begleiterin auserkoren. Deren Gebaren, ihr Wissen über den
Codex Vaticanus, aber auch ihre undurchsichtige Verbindung zu Antediluvian haben
Dilara zu dieser Entscheidung veranlasst. Die Tätowierung, ein stilisiertes
Kreuz mit einer Rose darin, ist der Vampirin ebenfalls nicht verborgen
geblieben, was ihr Misstrauen umso mehr gesteigert hat.
Das Trio begibt sich letztendlich auf eine ereignisreiche Zugreise durch
Frankreich nach Italien. Auf der Fahrt kommt es erneut zu einigen handfesten
Auseinandersetzungen zwischen den beiden Frauen, wobei Cippico sich mehr und
mehr auf die Seite der Sterblichen stellt, was seine Herrin rasend macht. Sie
verschwindet aus dem Abteil und taucht nicht wieder auf.
Just in dieser Situation mischt sich ein unerwünschter Gast ein, Torquato
Perez, ein ehemaliger spanischer Gespiele und letztendlich auch ein Geschöpf
Dilaras. Er will seine Ehemalige mit allen Mitteln zurückgewinnen, schrickt
auch nicht davor zurück, Cippico und Gelophee massivst zu bedrohen.
Glücklicherweise kommen den beiden die Maler Auguste Renoir und Claude Monet
(ja, genau diese beiden) zu Hilfe, sie entschärfen die Situation soweit, daß
der spanische Blutsauger sich aus dem Staub macht.
Dilara lässt sich erst wieder in Turin blicken. Eine Kirche bei Lugano ist das
erste Reisziel der kleinen Gruppe, da sie dort einen exkommunizierten Priester
nach Informationen zum Codex Vaticanus befragen wollen. Hier startet der
spanische Vampir Torquato seinen nächsten Angriff, nur bezahlt er diese Attacke
diesmal mit seinem unsterblichen Dasein - Methalumina gibt sich ein grausames
Stelldichein.
Auch Dilara findet beinahe den sicheren Tod, nur mit Mühe kann sie vor dem
Lichtwesen gerettet werden. Die Odyssee kann somit weiter gehen.
Die Suche endet letztendlich in Rom, wo es in den Katakomben des Vatikans zu
einem dramatischen und überraschenden Showdown kommt, dessen Ausgang Dilaras
Sicht der Dinge gravierend verändern wird...
Fazit
Was Marc-Alastor E.-E. in dieser faszinierenden Geschichte allein durch die Wahl
der Sprache gelingt ist bemerkenswert. Er verwendet in dieser Erzählung die
blumige Ausdruckweise aus eben jener vergangenen Zeit - haucht der Szenerie den
Geist des ausgehenden 19.Jahrhunderts schon mit der ersten Zeile ein.
Der Leser fühlt sich umgehend in die Vergangenheit versetzt.
Hatten die Charaktere in "Kuss der Verdammnis" ihre ersten Strukturen
bekommen, füllen sie sich hier zusehends mit weiterem Leben - Dilara wird mit
einigen tiefgreifenden Charakterzügen versehen, die man bisher ansatzweise
erahnen konnte. Ihre Ambivalenz; gefühlvolles weibliches Wesen und gnadenlose
Bestie; wird noch gravierender aufgeblättert.
An manchen Stellen verfällt man in ernsthaftes Mitleid mit Gelophee, wie sie
gegen eine massive Wand zu rennen scheint, man verteufelt Dilaras Starrsinn und
ihre kompromisslose Kälte. Doch dann schmiegt sie sich wieder an, wirkt
zerbrechlich und hilflos auf der Suche nach sich selbst - und man schliesst sie
wieder in die Arme
Mit der Figur des drolligen Cippico ist ein hervorragender Sympathieträger
geboren, ein liebevoller treuer Charakter, teilweise überfordert in den Wirren
dieser Reise, aber dann doch der ruhende, starke Pol, der mit seinem Wissen und
seiner unendlichen Geduld eine nahezu beruhigende und beschützende Wirkung auf
die temperamentvolle Vampirin hat.
Immer wieder belehrt er sie, bewahrt sie vor den gröbsten Fehlern, steht ihr
aber auch nahezu kompromisslos bei all ihren morbiden Tätigkeiten zur Seite.
Aber auch die dunkle Seite ist nicht zu vergessen: Torquato, Kyuzaemon und
natürlich Antediluvian werden mit einer bestechenden Bedrohlichkeit und
Bösartigkeit geschmückt, welche den Nosferati ihren ganz eigenen Flair
verleiht.
Einen kleinen Scherz erlaubt sich Marc-Alastor E.-E. bei seinen Charakteren; man
könnte es auch als authentischen Gimmick ansehen. Er überlässt Auguste Renoir
und Claude Monet ein kurzes Gastspiel. In der Tat sind diese beiden
französischen Maler zu dieser Zeit hin und wieder gemeinsam gereist, wie man
auch den Danksagungen am Ende des Buches entnehmen kann.
Marc-Alastor E.-E.s umfassende Recherchen und sein sprachlicher Kunstgriff geben
diesem Band einen ganz speziellen, verdienten Platz in der
Schattenchronik-Serie.
Die Zitate des italienischen Dichters und Zeitgenossen Giosuè Carducci als
jeweilige Einleitung in die Kapitel, sowie die Illustrationen von Pat Hachfeld -
diesmal finden sie sich inmitten der Handlung passend zu der aktuellen Szenerie
- betten sich wieder ideal in das Gesamtwerk ein.
Auch Mark Freiers Titelbild nimmt sich dieser Thematik auf seine eigene Weise
ein: am Horizont verschwimmen die Lettern des Codex Vaticanus, inmitten einer
Art Sonne (es könnte aber auch Methalumina sein) - diese Sonne finden wir auf
der Stirn Gelophees wieder.
Vorgeschlagen von Bjoern
[Profil]
veröffentlicht am 02. Juni 2006 2006-06-02 16:17:52