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Sander L. Gilman: Jurek Becker

Jurek Becker

von Sander L. Gilman
Verlag: Econ Ullstein List Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Biografie
ISBN-13 978-3-550-07559-9

Preis: 6,27 Euro bei Amazon.de [Stand: 20. Dezember 2024]
Wenn man mich fragt, wer der bedeutendste deutsche Gegenwartsautor ist, so würde ich - sicherlich nach einigem Nachdenken - Jurek Becker benennen. Sein ergreifendes Buch "Jakob der Lügner" ist für mich eines der eindrucksvollsten Werke über das Warschauer Ghetto. Insofern war ich interessiert, mehr über das Leben dieses Mannes, eines Menschen zu erhalten, der - wie diese Biograpie deutlich macht - auf der Suche nach einer eigenen Identität gewesen ist.
Aufgewachsen als nichtreligiöser Jude im polnischen Lodz, wird Becker im Alter von zwei Jahren ins Warschauer Ghetto eingeliefert - dort erlebt er seine ersten - wie sich in "Jakob der Lügner" zeigt - prägenden Eindrücke. Seine Mutter stirbt nach ihrer Befreiung aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, doch Vater und Sohn finden zusammen. "Zugehörigkeit war nun das zenrale Thema in Jurek und Max Beckers Leben" (S. 49) - daher lernen sie deutsch. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit und zugleich der Nichtzugehörigkeit, ein Deutscher und doch aufrund des Verlusts seiner Vergangenheit unwiderrufich anders zu sein - dieses Gefühl hat Jurek Becker als deutschen Schriftsteller geprägt. Die Frage der Identität ist ein Motiv, das sich durch Jurek Beckers literarisches Werk zieht" (S. 59). Aufgrund seines ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühls verletzt der junge Kommunist häufig ie Parteidisziplin. Er verlässt - auch aus diesem Grund - 1960 die Universität, die ihm "ideologische Unklarheit in Grundfragen", "Überheblichkit und Selbstgefälligkeit" und "cholerisches Wesen" vorwirft - einen Begriff, den er später zur eigenen Selbstbeschreibung verwendet. Er schreibt als Drehbuchautor 1960-1964 für den Film. Dies sei der einzige Beruf, den er wirklich ausgeübt habe, stellt er später ironisch fest. Hier lernt er Manfred Krug kennen, mit dem er eng befreundet ist. 1966 dreht er mit ihm den Film: "Spur der Steine" - der kurz darauf verboten wird. "Becker wurde für das Drehbuch bezahlt" (S.94), der Film abgesetzt. Zornig und hoch konzentriert schreibt Becker seinen Roman "Jakob der Lügner", "den bedeuendsten deutschen Roman eines Überlebenden der Shoah" (S. 94). Trotz seines Ruhms gilt Becker immer mehr als kaum noch akzeptaber ostdeutscher Hippie (S. 109). Den Frust über das reglementierte Leben in der DDR wird in seinem zweiten Roman: "Irreführung der Behörden" deutlich. Beim Aufbau-Verlag wird das Werk als zu politisch abgelehnt, doch der experimentierfreudigere Hinsorff-Velag in Rostock veröffentlicht das Werk Anfang 1973. Er wird von Kritikern im Osten abgelehnt, westdeutsche Rezensenten lobten den Roman. 1974, nach dem Tod des Vaters, erscheint Beckers autobiographischter Roman, der "Boxer" im selben Verlag. 1976, nach der Ausweisung Biermanns, kommt es zum Bruch Beckers mit der DDR-Führung, 1977 kommt er - nachdem er beschuldigt worden war, ein "Konterrevolutionär" zu sein, durch Austritt seinem bevorstehenden Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR zuvor. Ende 1977 verlässt er die DDR und geht - nach einem Intemzzo in West-Berlin, nach Amerika. Im Juli 1978 kehrt er nach West-Berlin zurück, wo er sich "am meisen Zuhause" (S. 190) fühlt. Doch für Becker war klar, dass er zwar weiterhin Kritik am System der DDR üben werde, sich jedoch nicht zum Werkzeug des Kapitalismus werde machen lassen (S. 191). Dort arbeitet er an seinem Buch "Bronsteins Kinder" und schreibt das Drehbuch zur bekannten Serie "Liebling Kreuzberg". 1983 wird er Mitglied der Deutschen Akademie für Spache und Dichtung in Darmstadt, "ein Zeichen, dafür, dass er nun der Schriftstellerelite der BRD angehörte." (S.224). Becker ist zwar 1989 über die Reformunfähigkeit des DDR-Regimes empört und "mit seiner Geduld gegenüber den Verantwortlichen der DDR am Ende" (S. 247), er hält sich in dem Debatten über das neue Deutschland jedoch zurück (S. 239). Seine Haltung zur DDR bezog er jedoch stets klar Position: Die DDR habe ihre Bürger zu Verrenkungen gzwungen, nach denen sie sehr hässlich ausgesehen haben. Es wäre jedoch heuchlerisch, diese Bürger dafür zu kritisieren. "Hätten die arroganten Westdeutschen" in der gleichen Zwangsjacke gesteckt, dann hätten sie genauso gehandelt. (S. 281)." Am 14. März 1997 starb Jurek Becker noch nicht 60 Jahre alt an Krebs.

Das Leben und Werk dieses bedeutenden "Wanderers zwischen den Welten" einfühlsam vorgestellt zu haben, darin liegt meines Erachtens das Verdienst des mit Becker befreundeten Autors Gilman. Er ist selber Jude und daher kann er Beckers Wesen und dessen Motivation mit psychologischem Falkenblick herausarbeiten. Da Gilman Beckers Motive und Grundthematik seiner Werke, die Suche nach einer eigenen Identität intuitiv nachfühlen kann - gelingt es ihm, dieses dem Leser verständlich machen. Das stark autobiographisch geprägte Werk und die Persönlichkeit Beckers wird daher durch diese hervorragende Biographie verstehbar. Zahlreiche - auch versprengte - Literatur von und über Becker wurde eingearbeitet, wie aus dem imposanten Anmerkungsapparat ersichtlich wird. Gilman hat auch persönliche Gespräche mit Familienangehörigen und persönlicen Freunden geführt. Gleichzeitig wird ein Stück deutsch-deutscher Nachkriegsgschichte lebendig.
Fazit
Diese Biographie weckt die Neugier auf das Werk Jurek Beckers. Dies erreicht zu haben, darin liegt meiner Meinung nach ihr Verdienst. Unbedingt empfehlenswert!
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne

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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 16. Januar 2003

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