Wenn man mich fragt, wer der bedeutendste deutsche Gegenwartsautor ist, so
würde ich - sicherlich nach einigem Nachdenken -
Jurek Becker benennen. Sein
ergreifendes Buch "Jakob der Lügner" ist für mich eines der
eindrucksvollsten Werke über das Warschauer Ghetto. Insofern war ich
interessiert, mehr über das Leben dieses Mannes, eines Menschen zu erhalten,
der - wie diese Biograpie deutlich macht - auf der Suche nach einer eigenen
Identität gewesen ist.
Aufgewachsen als nichtreligiöser Jude im polnischen Lodz, wird Becker im Alter
von zwei Jahren ins Warschauer Ghetto eingeliefert - dort erlebt er seine ersten
- wie sich in "Jakob der Lügner" zeigt - prägenden Eindrücke. Seine
Mutter stirbt nach ihrer Befreiung aus dem Frauenkonzentrationslager
Ravensbrück, doch Vater und Sohn finden zusammen. "Zugehörigkeit war nun
das zenrale Thema in Jurek und Max Beckers Leben" (S. 49) - daher lernen
sie deutsch. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit und zugleich der
Nichtzugehörigkeit, ein Deutscher und doch aufrund des Verlusts seiner
Vergangenheit unwiderrufich anders zu sein - dieses Gefühl hat Jurek Becker als
deutschen Schriftsteller geprägt. Die Frage der Identität ist ein Motiv, das
sich durch Jurek Beckers literarisches Werk zieht" (S. 59). Aufgrund seines
ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühls verletzt der junge Kommunist häufig ie
Parteidisziplin. Er verlässt - auch aus diesem Grund - 1960 die Universität,
die ihm "ideologische Unklarheit in Grundfragen",
"Überheblichkit und Selbstgefälligkeit" und "cholerisches
Wesen" vorwirft - einen Begriff, den er später zur eigenen
Selbstbeschreibung verwendet. Er schreibt als Drehbuchautor 1960-1964 für den
Film. Dies sei der einzige Beruf, den er wirklich ausgeübt habe, stellt er
später ironisch fest. Hier lernt er Manfred Krug kennen, mit dem er eng
befreundet ist. 1966 dreht er mit ihm den Film: "Spur der Steine" -
der kurz darauf verboten wird. "Becker wurde für das Drehbuch
bezahlt" (S.94), der Film abgesetzt. Zornig und hoch konzentriert schreibt
Becker seinen Roman "Jakob der Lügner", "den bedeuendsten
deutschen Roman eines Überlebenden der Shoah" (S. 94). Trotz seines Ruhms
gilt Becker immer mehr als kaum noch akzeptaber ostdeutscher Hippie (S. 109).
Den Frust über das reglementierte Leben in der DDR wird in seinem zweiten
Roman: "Irreführung der Behörden" deutlich. Beim Aufbau-Verlag wird
das Werk als zu politisch abgelehnt, doch der experimentierfreudigere
Hinsorff-Velag in Rostock veröffentlicht das Werk Anfang 1973. Er wird von
Kritikern im Osten abgelehnt, westdeutsche Rezensenten lobten den Roman. 1974,
nach dem Tod des Vaters, erscheint Beckers autobiographischter Roman, der
"Boxer" im selben Verlag. 1976, nach der Ausweisung Biermanns, kommt
es zum Bruch Beckers mit der DDR-Führung, 1977 kommt er - nachdem er
beschuldigt worden war, ein "Konterrevolutionär" zu sein, durch
Austritt seinem bevorstehenden Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR
zuvor. Ende 1977 verlässt er die DDR und geht - nach einem Intemzzo in
West-Berlin, nach Amerika. Im Juli 1978 kehrt er nach West-Berlin zurück, wo er
sich "am meisen Zuhause" (S. 190) fühlt. Doch für Becker war klar,
dass er zwar weiterhin Kritik am System der DDR üben werde, sich jedoch nicht
zum Werkzeug des Kapitalismus werde machen lassen (S. 191). Dort arbeitet er an
seinem Buch "Bronsteins Kinder" und schreibt das Drehbuch zur
bekannten Serie "Liebling Kreuzberg". 1983 wird er Mitglied der
Deutschen Akademie für Spache und Dichtung in Darmstadt, "ein Zeichen,
dafür, dass er nun der Schriftstellerelite der BRD angehörte." (S.224).
Becker ist zwar 1989 über die Reformunfähigkeit des DDR-Regimes empört und
"mit seiner Geduld gegenüber den Verantwortlichen der DDR am Ende"
(S. 247), er hält sich in dem Debatten über das neue Deutschland jedoch
zurück (S. 239). Seine Haltung zur DDR bezog er jedoch stets klar Position: Die
DDR habe ihre Bürger zu Verrenkungen gzwungen, nach denen sie sehr hässlich
ausgesehen haben. Es wäre jedoch heuchlerisch, diese Bürger dafür zu
kritisieren. "Hätten die arroganten Westdeutschen" in der gleichen
Zwangsjacke gesteckt, dann hätten sie genauso gehandelt. (S. 281)." Am 14.
März 1997 starb Jurek Becker noch nicht 60 Jahre alt an Krebs.
Das Leben und Werk dieses bedeutenden "Wanderers zwischen den Welten"
einfühlsam vorgestellt zu haben, darin liegt meines Erachtens das Verdienst des
mit Becker befreundeten Autors Gilman. Er ist selber Jude und daher kann er
Beckers Wesen und dessen Motivation mit psychologischem Falkenblick
herausarbeiten. Da Gilman Beckers Motive und Grundthematik seiner Werke, die
Suche nach einer eigenen Identität intuitiv nachfühlen kann - gelingt es ihm,
dieses dem Leser verständlich machen. Das stark autobiographisch geprägte Werk
und die Persönlichkeit Beckers wird daher durch diese hervorragende Biographie
verstehbar. Zahlreiche - auch versprengte - Literatur von und über Becker wurde
eingearbeitet, wie aus dem imposanten Anmerkungsapparat ersichtlich wird. Gilman
hat auch persönliche Gespräche mit Familienangehörigen und persönlicen
Freunden geführt. Gleichzeitig wird ein Stück deutsch-deutscher
Nachkriegsgschichte lebendig.