Wohin steuert Rußland unter Putin? Welche Innen- und Außenpolitik steuert der
Präsident? Wie ist das politische System in Rußland zu charakterisieren?
Diesen Fragen geht das neue Werk von Margareta Mommsen: "Wer herrscht in
Rußland? Der Kreml und die Schatten der Macht" kompetent nach. Das Werk
ist in gewissem Sinne als Ergänzung zu Mommsens früherer Publikation
"Wohin treibt Rußland?" aus dem Jahre 1996 (ebenfalls Beck-Verlag) zu
verstehen.
Ergebnisse: Ob sich Rußland auf dem Weg nach Europa befände, sei weiterhin
unklar. Das politische System des riesigen Landes, welches man in Anlehnung an
Wolfgang Merkel als
"defekte Demokratie" beschrieben hat, sei auch mehr als zehn Jahre
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch nicht vollkommen klar. Im Innern
habe es bislang fehlende Klarheit über den Systemwechsel gegeben, die Optionen
in der Außenpolitik seien unsicher geblieben. Nach den Terroranschlägen auf
die USA am 11. September 2001 habe Wladimir Putin die russische Außenpolitik
allerdings auf einekn klaren Westkurs gebracht, der sich im Verhältnis Moskaus
sowohl zu den USA als auch zu Europa bis zum Sommer 2002 deutlich verstärkt
habe. Dieser Wandel sei allerdings nur möglich gewesen, da es eine positive
Dynamik an äußeren wie inneren Faktoren gebe, die diese Entwicklung
begünstigten. Dazu gehörten die kumulativen Wirkungen der schon bisher
erreichten Integration in die euro-atlantischen Strukturen zugunsten einer
weiteren Verdichtung des Verhältnisses Rußlands zu Europa wie auch die
ökonomischen Interessen der russischen bisnismeny sowie die vielfältigen
Formen der direkten Kooperation zwischen Rußland und den europäischen Ländern
etwa in Form von Städtepartnerschaften. Möglich wurde jedoch dieser Wandel in
erster Linie durch die pragmatische Persönlichkeit von Präsident Wladimir
Putin, dessen Lebenslauf und politische Konzepte insbesondere im Kapitel 3: Die
"gelenkte Demokratie" unter Putin erläutert werden. Dieser wird als
rationaler Modernisierer verstanden, der den Kurs konseqent in Richtung liberale
Marktwirtschaft gestellt habe (S. 114). Fazit: Ohne Zweifel habe sich Putin in
vielen Bereichen - in der Wirtschafts- und Sozialpolitik oder bei der
Justizreform, für Neuerungen engagiert (S. 134). Insofern sei das Etikett eines
"rationalen Modernisierers" des Landes durchaus angebracht.
Andererseits ständen die plebiszitären Ansätze und die Bestrebungen, einen
strikt hierarchisch gegliederten, bürokratischen Staat zu errichten, der
Einschätzung Putins als "Europäisierer" klar entgegen.
In dem Buch werden sowohl die beiden Hauptakteure der russischen Politik, Jelzin
und Putin, dargestellt. Dies rechtfertigt die Autorin damit, dass im
postsowjetischen System in erster Linie Personen die Institutionen prägten und
nicht umgekehrt. Über die poloitische Kultur der Akteure hinaus untersucht die
Autorin die Funktionsweise dieser Institutionen. Insofern versteht sich die
Darstellung sowohl als eine allgemeine Einführung in das politische Sstem
Rußlands als auch als ein Beitrag zur Entwicklung und Funktionsweise
informeller Herrschaftsstrukturen während der Ära Jelzin und unter Putin.
Dabei verwendet Mommsen Erkenntnisse der Trasitionstheorien und der politischen
Kulturforschung. Die Autorin verlgiecht außerdem nach klassischer Manier der
Systemanalyse Verfassungsnormen mit Verfassungsrealität.
Herauskommt ein interessantes und plastisches Bild Rußlands unter Putin,
welches seinen Weg noch sucht. Aufgrund zahlreicher Deutungen und Quellen sucht
sie das "Rätsel Putin" zu lösen, eines Präsidenten, der praktisch
über Nacht in die höchsten Ämter hineinkatapultiert worden sei und damit in
die Lage versetzt worden sei, grundlegende politische Optionen und
Entscheidungen treffen zu müssen, die Erfahrungen, Reflexion und Lernprozesse
voraussetzen. Putin wird - in scharfer Abgrenzug zu Jelzin - als
durchsetzungsstarker und lernfähiger Präsident portraitiert, ein Bild, welches
seine Wirkung auf die Wähler, die in hohem Masse Sowjetmenschen gewesen seien,
nicht verfehlt habe (S. 190). Ob Putin es schafft, sein Land als konstruktiven
und stabilen Faktor in die Weltgemeinschaft einzuordnen? Die Autorin bilanziert:
"Wenn der im Sommer 2002 übermittelte Eindruck zutrifft, daß Putin
Antworten auf Rußlands ewige Fragen "Wer sind wir?" und "Wohin
gehen wir?" gefunden hat und diese in der Westintegration und der
"Europäisierung" des Landes zu suchen sind, so bleibt gleichwohl viel
zu tun, um diesen Zielsetzungen zu Hause und im internationalen Umfeld näher zu
kommen. Im Innern stehen entscheidende Impulse und Initiativen zu einer
konsequenten weiteren Demokratisierung wie zur vordringlichen politischen
Lösung der tschetschenischen Frage aus. Je entschlossener und konstruktiver der
Zugang gerade zur Lösung dieser Probleme erfolgt, desto rascher und glatter
lassen sich auch die Aufgaben der internationalen Integration Rußlands
bewältigen. Zweifellos wird es nicht leicht sein, insbesondere die mentalen
Barrieren gegen Rußlands erneuten Aufbruch nach Europa zu überwinden. Und dies
gilt nicht nur für die Heimatfront, sondern auch für das westliche Ausland, wo
sich ebenfalls schnell abrufbare negative Stereotypen aus den Zeiten des kalten
Kreiges konserviert haben. Insofern fällt allen an einer
"Europäisierung" Rußlands interessierten internationalen Akteuren
die Aufgabe zu, sich an dem Unternehmen engagiert und vorurteilslos zu
beteiligen. Immerhin hat Javier Solana, der hohe Repräsentant der EU für die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, schon im Frühjahr 2000 die ebenso
hoffnungsvoll wie bedeutungsschwer klingende Aussage getroffen, daß zu Beginn
des 21. Jahrhundets "die Partnerschaft mit Rußland die wichtigste
Herausforderung" für die Europäer bildet."
Fazit
Dieses aktuelle Buch stellt die für mich aktuellste Einführung in das
politische System Rußlands dar. Neben dem Buch "Russland unter neuer
Führung: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft am Beginn des 21.
Jahrhunderts" aus dem Agenda-Verlag, in dem ebenfalls ein Beitrag der
Autorin abgedruckt ist und den beiden bahnbrechenden Putin-Biographien von
Alexander Rahr und
Wolfgang Seiffert ist dies
zweifellos das wichtigste Buch über Rußlands Weg unter Wladimir
Wladimirowitsch Putin. Hervorragend ist auch, dass die Autorin nicht nur die
westliche, sondern auch die russische Fachliteratur für ihre Analysen
ausgewertet hat. Auch diese Tatsache macht das vorliegende Werk zu einer bislang
unübertroffenen Analyse der politikwissenschaftlichen Transitions- und
Kulturforschung. Unbedingt lesen!
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 18. Januar 2003 2003-01-18 22:20:13