Jugendkriminalität kannte man bislang hauptsächlich aus dem Westen. Rußland
und der frühere Ostblock wurden zwar mit mafiöser Kriminalität verbunden und
sicherlich ist auch bekannt, dass im Zuge der sozialen Umbrüche seit 1985 auch
die Jugendkriminalität zugenommen hat. Aber dass dieses Thema bereits 1990
durch einen estnischen Autor thematisiert - und zwar äußerst packend
thematisiert worden ist, dies war neu. Um es gleich zu sagen: dies ist einer der
beeindruckendsten Jugendromane, die ich gelesen habe. Im Gegensatz zu
zahlreichen westlichen "Vorbildern", etwa "Fänger im
Roggen" oder dem jetzt verfilmten Buch: "Knallhart" ist es hier
der vollkommen verunsicherte Vater, der fassungslos mit ansehen muss, wie sein
Sohn Vahur, in den er allen Stolz gesetzt hat, zusammen mit einer Clique
gleichaltriger und älterer Freunde ein älteres Ehepaar zusammenschlägt, als
diese mit der Clique wegen einer Nichtigkeit zusammengeraten. Der alte Mann
stirbt - aufgrund eines Fußtritts von Vahur. Wie konnte der behütete Sohn zum
Verbrecher werden? Wer trägt die Schuld? Der Vater, der dem Sohn ein Vorbild
sein wollte - und es letztlich nicht war? Die Mutter, eher hysterisch veranlagt,
der Sohn selber? Warum war es der Sohn, der zum Mörder wurde? Fragen über
Fragen, die sich in diesem packenden Roman stellen. In Form von Rückblenden
schildert der - ratlose - Vater das Leben des inzwischen 18-jährigen schuldigen
Sohnes und sucht nach der Ursache der Tragödie. Um es gleich zu sagen: es gibt
keine befriedigende eindimensionale "Lösung", die Ursachensuche
gestaltet sich komplex. Zurück bleibt Leere, Verzweiflung und ein sehr bitteres
Ende - es kommt zur völligen Entfremdung zwischen Vater und Sohn. Der Roman ist
bereits 1990 erschienen; durch Zufall ist er mir neulich in der Bibliothek
wieder in die Hand gefallen; ich habe ihn zum zweiten Mal gelesen und war von
ihm so gepackt wie beim ersten Mal; die Probleme der anonymen
Massengesellschaften, Ratlosigkeit im Umgang mit Generationen, Fragen nach
Fehlern in der Erziehung werden schonungslos gestellt, wobei nicht zu übersehen
ist, wie der Vater Schuld von sich "wegzudrängen" sucht und trotzdem
die Wahrheit erkunden will. Gibt es diese überhaupt? Wer ist Schuld an der
Tragödie? Dies sind Fragen, die nicht nur in ähnlich gelagerten westlichen
Titeln thematisiert worden sind, wie der vorliegende Roman - ist es ein
Adoleszenzroman, ist es ein Kriminalroman, ein sozialer Roman (er entzieht sich
meines Erachtens der eindeutigen Kategorisierung) - in eindringlicher Weise
stellt.
Fazit
Ein sehr eindrucksvolles Buch, eines der wenigen, welches mich nicht mehr
losgelassen hat und wohl nie mehr loslassen wird.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 18. März 2006 2006-03-18 00:26:59