Als ich hörte, dass von Dimitri Wolkogonow, dem Biographen Stalins, Lenins und
Trotzkis eine Biographie über die Führer der Sowjetunion erscheinen würde,
war ich sehr gespannt. Hatte ich doch das einzige vergleichbare Werk, welches
die gleiche Thematik auf dem Buchmarkt anspricht, Michail S. Voslenskys
"Sterbliche Götter" (neben L.
Koehls "Kremlchefs" von
1991), gelesen und war auf einen Vergleich gespannt.
Wolkogonow, ehemaliger Chef der Politischen Hauptverwaltung der Armee und seit
1985 Leiter des Instituts für Militärgeschichte, konnte die Geheimarchive der
Partei studieren. Er wertete Protokolle von Politbürositzungen und Sitzungen
des Zentralkomitees aus, unter anderem das Archiv des russischen Präsidenten,
das Archiv des Geheimdienstes, des früheren KGB, das Staatsarchiv der UdSSR,
die Unterlagen des Russischen Zentrums für die Verwahrung und das Studium von
Dokumenten der Neueren Geschichte, das Zentralarchiv des
Verteidigungsministeriums und des Zentrums für die Verwahrung von Dokumenten
der Zeitgeschichte.
Jedes der sieben chronologisch angeordneten Kapitel des Buches ist eine
eigenständige politische Studie, die durch einen gemeinsamen Faden der
Ideologie, der Weltanschauung und der Praxis zusammengehalten werden, so der
Herausgeber der englischen Ausgabe. Ähnlich wie bei Voslenski wird Lenin von
seinem "Sockel" als "Übervater" geholt und seine
Grausamkeit und Härte herausgearbeitet. Wie Voslenski sieht er Lenin und Stalin
als die Verursacher der sowjetischen Tragödie an, da sie ihre Weltanschauung
über alles stellten und Gegner als Feinde betrachteten, die sie gnadenlos
vernichteten. Gegenüber den zahlreichen Lenin- und Stalinbiographien (vgl. bei
Lenin etwa zuletzt die Biographien von Robert Service und Helene Carriere
d'Encausse) ergibt sich nichts substantiell neues. Und hier beginnt meine
Enttäuschung über die Biographien. Zwar werden - der Autobiographie des Autors
gemäß - militärische Fragen ausgiebigst erörtert (etwa die Fehler Stalins im
Zweiten Weltkrieg und die defensive Haltung Stalins gegenüber Hitler), jedoch
ganz zentrale Fragen, die durch die Dokumente eben nicht geklärt werden, nicht
beantwortet, etwa die Frage, inwieweit Stalin in die Ermordung des Leningrader
Parteichefs Kirow involviert gewesen ist, die in der Forschung unterschiedlich
beantwortet wird. Auch die interessante, bei Voslensky erörterte Frage, ob
Stalin selber Doppelagent der Ochrana gewesen sei und daher sein pathologisches
Mißtrauen gegen Spione zu erklären sei, wird nicht angesprochen. Bei
Chruschtschow fällt dieser Mangel, sich in die Psyche des Parteichefs
hineinzudenken, besonders auf. Dieser wird zwar als Reformer betrachtet, der das
totalitäte in ein autoritäres System umgewandelt habe, auch seine Schwächen
(mangelnde Sachkenntnis auf zahlreichen Gebieten, unkritischer Glaube an Partei
und System, Impulsivität und Emotionalität) werden herausgearbeitet, jedoch
bei weitem nicht so gut wie etwa bei Voslenski. Gut dokumentiert sind hingegen
die Entstehung der Kuba-Krise, die zeigt, wie naiv und im wahrsten Sinne
"abenteuerlich" die Weltsicht Chruschtschows war, der - dies war mir
neu - durchaus Pläne billigte, die USA atomar anzugreifen (S. 243). Die
Ursachen seines Sturzes werden - da die diesbezüglichen Dokumente zum Teil
vernichtet worden sind - nur kursorisch erklärt, der Machtkampf mit Koslow, wie
er bei
Michel Tatu (Macht
und Ohnmacht im Kreml, 1969) ausführlich erörtert wird, kommt nicht vor, auch
der Machtkampf um die Nachfolge Breschnjews wird nicht ausführlich dargestellt.
Zunächst konnte sich Andropow durchsetzen, der als sehr kluger Politiker
geschildert wird, der als einziger in der Breschnjew-Führung um die Probleme
des Riesenreiches wußte, wenn ihm auch die Zeit fehlte, seine - sehr
einseitigen, auf Stärkung der Parteidisziplin ausgerichteten - Konzepte,
durchzusezten. Tschernenko wird als Politiker dargestellt, der nur vom Blatt
ablesen konnte, so dass man sich fragen muß, wie ein solcher Politiker
überhaupt an die Spitze gelangen konnte. Bei Voslensky oder Dusko Doder
("Machtkampf im Kreml", 1983) wird deutlicher herausgearbeit, dass
Tschernenko ein Produkt des Systems gewesen ist und - bei aller intellektuellen
Beschränktheit - ein ausgefuchster Machtpolitiker und kein Dummkopf gewesen
ist. Auch bei Gorbatschow, den er - im Gegensatz zu Voslenski - mit großer
Sympathie betrachtet, da er das totalitäre System beseitigt hatte, wird der
Mangel an plastischer Darstellung deutlich. Nun ist - dies sagt der Autor selber
- über Gorbatschow so viel publiziert worden wie über keinen der anderen
Sowjetführer, die "Befangenheit", über diesen zu schreiben, ist
daher naturgemäß größer. Doch seine Rolle - etwa bei der Niederschlagung der
Unabhängigkeit der baltischen Republiken in Baku und dem Massaker in Tiflis,
hätte deutlicher herausgearbeitet werden müssen. Memoiren der beteiligten
Personen liegen nun wirklich - besonders im Russischen und Englischen - sehr
zahlreich vor. So enttäuscht auch dieser biographische Abriss.
Fazit: Es ist durchaus interessant, diese Biographien zu lesen, die erstmals
geheime Dokumente erschließen. Da jedoch in der alten UdSSR der Wert
schriftlicher Dokumente (die Politbüromitglieder wurden bis 1990 abgehört)
begrenzt ist - das sogenannte Phänomen des "Doublethink" (vgl. diesen
Begriff bei
George Orwell
oder Gail Sheehy) - ist auch der Aussagewert dieser Biographien begrenzt, dem
die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Menschen fehlt, die - meines Erachtens
zu Unrecht - zu reinen Automaten der Macht degradiert werden. Wer ein
menschlich-psychologisches Bild der Kremlführer sucht, sollte zu Voslenskys
"Sterbliche Götter" greifen. Dennoch ist die Studie eine gute
Erstinformation für politisch interssierte eines durchaus äußerst mutigen
Autors, der seine eigenen Fehler (Mitläufertum) immer eingestanden hat und dem
es an Willen zur Aufklärung bis zu seinem Krebstod 1995 nicht mangelte.
Das Buch wird ergänzt durch ein hervorragendes Porträt des FAZ-Korrespondenten
Markus Wehner, der die postsowjetische Politik unter Jelzin bis Putin
charakterisiert und ein sehr interessantes Porträt des gegenwärtigen
russischen Präsidenten abgibt, der außenpolitische Erfolge errungen habe und
innenpolitisch einen Wandel des politischen Bewußtseins bewirken konnte (S.
541). Putins Vorbild sei Peter der Große, Demokratie habe er nie verinnerlicht,
sondern wende Geheimdienstmethoden an, um diejenigen zu "bestrafen",
die ihm gegenüber nicht loyal seien. Pläne würden mit aller Konsequenz
verfolgt, Ereignisse und Informationen, die ihn dabei störten, würden als
Sabotage und Propaganda gewertet, selbst da, wo es notwendig sei, den Plan zu
ändern. Im Gegensatz zu Vorgänger Jelzin sei Putin jedoch ein zielstrebiger
Mannschaftsspieler,der nicht mit Leuten wegen Meinungsverschiedenheiten bräche.
"Er ist unfähig zum Verrat", sagte der verstorbene Petersburger
Oberbürgermeister Sobtschak über ihn. Auffällig sei seine Fähigkeit, über
lange Zeit konzentriert zu arbeiten. Die Bilanz des ersten Putin-Jahres sei
nicht von bahnbrechenden Erfolgen geprägt gewesen, was ihm jedoch bei der
Bevölkerung selber nicht geschadet und ihn kaum in Bedrängnis gebracht habe.
Wie er mit seinen Plänen, die einstige russische Größe wieder herzustellen,
vorankäme, lasse sich noch nicht beurteilen. Sicherlich sei jedoch auch, dass
das, was er tun wird, den Freunden der Demokratie oft nicht gefallen wird.
Ein zutreffendes Portrait, wie ich finde und insgesamt die für die an der
russischen Zukunft interessierten Leser die interessantesten Seiten dieser
Monographie.