Herzerfrischend
Keine ständig gesenkten Köpfe, die auf kleine Bildschirme starren. Keine edlen
Lofts, die auf Patina getrimmt wurden. Keine Textnachrichten, keine Fake-News,
all das moderne digitale Brimborium ist zum Zeitpunkt der Gegenwart des Romans
noch gar nicht erfunden oder steckt weitgehend noch in den Kinderschuhen. Ende
der 80er Jahre. New York. Die freie Welt, das freie Atmen, wo es noch Wohnungen
zu besetzten und mit wenig Geld in irgendwelchen Löchern ganz gut gehaust
werden kann und den beiden Hauptfiguren vor allem eins wichtig ist: Leben.
Aus dem Vollen heraus. Was bei Kobek nicht heißt, Karriere, Geld und edle
Speisen (samt teurer Drogen), sondern für Baby und Adeline liegen die Genüsse
der Welt im echten, direkten und zwischenmenschlichen Erleben. Was Alkohol, Sex,
Happenings und, vor allem, Partys an allen Orten eindrucksvoll und
hochwillkommen einschließt. Was gerade das "Landei" Baby mit allen
Sinnen, nach einer gewissen Anlaufphase, in den Rausch des Genusses bringt. Vom
Land, schwul. (was in seiner Jugend bereits einmal für höchste Aufregung
sorgte) und nun im Schmelztiegel des Big Apple, in dem jeder macht, was er
möchte, aber jeder auch, weitgehend, allein zu Recht zu kommen hat.
Gut, dass Adeline, finanziell eher auf Rosen gebettet, sich Baby eng anschließt
und beide als kongeniales Duo dem Leser einen Streifzug durch jene feierwütigen
10 Jahre ermöglicht (beginnend im September 1986), von denen der Roman handelt.
Leger, locker, lässig geschrieben, ohne dabei Tiefe vermissen zu lassen und mit
der Kunst versehen, die Figuren sich nachvollziehbar und emotional dicht zu
entwickeln zieht es den Leser förmlich hinein in die schweißtreibende
Atmosphäre der Nächte, die kurzen, knackigen Dialoge und die immer wieder
unentrinnbare Frage nach dem Sinn von allem und wer man eigentlich wirklich ist.
Das, was man besitzt schon mal nicht, wie die ersten Szenen direkt aufweisen
werden, in denen jene Reisetasche mit allem intus, was Baby besitzt und mit in
die Stadt bringt, umgehend verschwindet.
Doch was solls, das sind ja nur Dinge. Und ist nicht Freundschaft das
eigentliche, was zählt? Denn, am Ende des Romans, wie viele Affären,
Liebeleien, Sex und Party auch vor den Augen des Lesers vorbeigezogen sein
mögen, was den Roman (und damit das Leben an sich) trägt, das ist diese
kongeniale, einander ergänzende, aneinander lernende Freundschaft von Adeline
und Baby.
"Ich lief am helllichten Tag die 42nd Street entlang. Und wurde nicht
überfallen". Was schon mal ein guter Beginn für Baby ist. Für diesen
Mann mit dem fast naiven, aber direkten und klaren Blick auf die Welt.
"Ich hatte Angst, er würde sie ein wenig lächerlich finden….Natürlich
tat er das nicht. Das bewunderte ich an Baby. Er war nie grausam".
Fazit
Und das legt sich auch dem Leser nahe ans Gemüt. Dass da eine ganze Welt zu
entdecken ist, wenn man nur mit offenen Augen und einer gewissen, inneren
Neugier und Freundlichkeit darauf zugeht. Dass das Leben sich nicht in digitalen
Boxen oder per Textnachrichten leben lässt, sondern nur hautnah am Geschehen.
Wobei es am Ende gar nicht um die Frage geht, ob es damals "besser"
war als heute, sondern der Roman den Leser auffordert, diese Lust am Erleben in
sich wieder und neu zu entdecken und ihr Raum zu geben. Da draußen.
Wofür auch all jene Figuren im Buch stehen, von deren Scheitern genau an diesem
"echten" Leben Kobek fast lapidar und wie nebenbei immer wieder im
Verlauf der Ereignisse mit erzählt. Eine klare Leseempfehlung.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 08. August 2018 2018-08-08 13:14:33