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Die Ich-Erzählerin, seit zwei Jahren verwitwet, ist von ihrer Cousine und deren
Mann eingeladen worden, drei Tage mit ihnen in einem Jagdhaus in den Bergen zu
verbringen. Alle drei sowie der Hund Luchs sind guter Dinge. Am Nachmittag nach
der Ankunft entschließt sich das Ehepaar, einen Spaziergang ins Dorf zu machen.
Die Erzählerin bleibt im Haus, und bald trottet auch Luchs zurück zu ihr. Es
wird Abend, es wird Nacht, aber die beiden Spaziergänger kehren nicht zurück.
Auch als die Frau am Morgen erwacht, sind die Betten noch immer unberührt.
Unruhig macht sie sich an diesem strahlenden Maimorgen mit dem Hund auf den Weg
ins Dorf. Aber sie kommt nicht weit: Am Ende der Schlucht, durch die der Weg
hindurch führt und sich zur Straße verbreitert, heult Luchs vor Schmerz auf,
er jault und winselt, und die Frau sieht erschrocken seine blutende Schnauze. Er
muß sich an etwas gestoßen haben. Aber es ist nichts zu sehen. Dann stößt
auch die Frau an etwas Glattes, Kühles, das sie am Weitergehen hindert. Sie
denkt zunächst an eine Sinnestäuschung, aber die schmerzende und anschwellende
Beule auf ihrer Stirn belehrt sie eines Besseren: Da ist eine unsichtbare Wand,
hinter der die Straße weitergeht, aber die ist völlig leer. Alles, was
jenseits der Wand lebte, ist tot: der Vogel, der am Boden liegt, der Mann im
nächsten Gehöft, der unbeweglich an seinem Brunnen steht, die gehöhlte Hand
wie mitten in der Bewegung eingefroren, zum Gesicht erhoben. Die Frau hämmert
mit den Fäusten gegen die Wand, aber die bewegt sich nicht und bleibt
undurchlässig. Am Abend davor muß diese Wand dahin gekommen sein, die nun das
lebendige Hier vom erstorbenen Drüben trennt, von jenem Drüben, in dem auch
die Cousine und ihr Mann offensichtlich vom Tod überrascht worden sind.
In den folgenden Tagen macht sich die Frau mit Luchs, dem einzigen ihr noch
verbliebenen lebenden Wesen, noch mehrfach auf den Weg, um die Wand zu
erforschen und nach Fluchtmöglichkeiten zu suchen. Aber die Wand scheint in
beiden Richtungen endlos zu sein, ihr Ende in der Höhe ist unerreichbar, und
auch durch die Erde kann man sich nicht auf die andere Seite hindurchgraben.
Irgendwann erkennt die Gefangene, daß es nicht möglich ist zu entrinnen, und
also sucht sie sich nach und nach in ihrer begrenzten Welt einzurichten, so gut
es geht. Glücklicherweise sind im Jagdhaus ausreichend Lebensmittelvorräte
vorhanden und auch die wichtigsten Dinge des täglichen Gebrauchs wie
Haushaltsgeräte, Kerzen, Zündhölzer usw. Natürlich hofft die Frau, daß die
Wand, für deren Ursache und Herkunft es keinerlei Erklärung gibt, eines Tages
ebenso plötzlich wieder verschwinden würde, wie sie gekommen ist, oder daß
vielleicht ein zufällig auftauchendes Flugzeug die Rettung bringen könnte,
oder daß noch ein anderer Mensch käme, mit dem gemeinsam sich ein Ausweg
finden ließe. Aber zunächst findet sich nur eine Katze und eine Kuh, die ihr
zulaufen und die gemeinsam mit Luchs, dem treuen Gefährten, für lange Zeit die
einzigen Mitbewohner im Jagdhaus bleiben. Sehr viel später soll sich zwar auch
die Sehnsucht nach einem menschlichen Wesen erfüllen, aber diese kurze
Begegnung endet sehr tragisch.
Aus Wochen werden Monate und aus Monaten Jahre. Nach mehreren Sommern bekommt
die Katze Junge, und die Kuh kalbt. Für die Tiere zu sorgen macht den
Hauptinhalt des Alltags der Frau aus, gibt ihm Aufgabe und Struktur und erhält
letztlich ihren Lebenswillen. Als sie fast alle verloren hat, greift sie
schließlich zu den letzten Schreibgeräten, die ihr noch verblieben sind, einem
fast ausgetrockneten Kugelschreiber sowie drei Bleistiftstummeln, und bringt
ihre Geschichte zu Papier. Ob jemals ein Mensch sie lesen wird, weiß sie
nicht.
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Die Autorin gibt der Ich-Erzählerin den Sprachstil einer praktisch veranlagten
Frau unserer Tage im mittleren Lebensalter, die mit ihrer Natürlichkeit und
Authentizität überzeugt. Einerseits glaubt man dieser Frau, daß sie bisher
nicht zu schreiben gewohnt war und bescheinigt ihr gerade deshalb gern, daß sie
es gut kann. Sie hat sich vor diesem tiefen Einschnitt in ihr Leben auch nie
besonders mit philosophischem Denken beschäftigt und wohl auch kaum groß über
fundamentale Lebensfragen reflektiert. Das wird ihr in der Jagdhütte auch
deutlich bewußt: So vieles hat sie einmal gelernt, aber kaum etwas weiß sie
wirklich. Das macht sie dem heutigen Leser sympathisch, weil er sich in ihr
wiedererkennt. Daher paßt es auch sehr genau zu dieser Figur, daß der Text in
einer einfachen, klaren Sprache geschrieben ist, die bescheiden wirkt, auf jedes
Pathos verzichtet und frei ist von vordergründiger Psychologisierung ebenso wie
von allzu leicht durchschaubaren Deutungsangeboten. Vor allem in diesem Stil
offenbart sich die Meisterschaft der Autorin.
Deutungen vorzunehmen und Gefühle nachzuempfinden ist und bleibt die Sache des
Lesers. Aber das dürfte ihm auch nicht schwerfallen, denn die Geschichte ist
von Anfang bis Ende eine groß angelegte und bis ins kleinste Detail fein
ausgearbeitete Parabel voller Metaphern. Da ist alles aufeinander abgestimmt und
stimmig. Das zentrale Motiv ist die unüberwindbare Wand, die sich als
unbarmherziges Schicksal plötzlich und unvorhersehbar vor uns auftut und unsere
ganze Lebensplanung zunichte macht. Hinter dieser gläsernen Wand geht die
Straße weiter - aber nicht mehr für uns. Das "Drüben", zum Greifen
nah, ist uns mit einem Schlag unerreichbar geworden. Wir sind unentrinnbar
gefangen in der Situation, wie sie nun ist, und nichts ist mehr so, wie es war.
Nun müssen wir zusehen, wie wir damit fertig werden. Diese Erfahrungen können
wir alle machen, und viele haben sie schon machen müssen. Aber die Menschen
reagieren sehr unterschiedlich auf die Wand. Die einen können und wollen sich
nicht mit ihr abfinden, und sie vergeuden ihre ganze Kraft in einem Kampf, den
sie nicht gewinnen können. Damit aber zerstören sie letztlich ihr Leben und
sich selbst. Die anderen lernen die Wirklichkeit zu akzeptieren, freilich ohne
gänzlich hoffnungslos zu werden, und richten sich in der neuen Situation
bestmöglich ein. So macht es die Frau in diesem Roman. In ihrer ausweglos
scheinenden Lage könnte der Zweifel am Sinn des Weiterlebens die Oberhand
gewinnen. Freilich hat auch sie mitunter den Gedanken gehabt, ob es nicht
klüger wäre, sich beizeiten umzubringen, anstatt einem Dahinvegetieren ohne
einen Menschen und - im Falle ernster Krankheit und Hilflosigkeit - ohne Arzt
und Hilfe zu sein oder dem Verhungern entgegensehen zu müssen, wenn eines Tages
alle Vorräte aufgebraucht sein würden. Aber da waren ja die Tiere. Für sie
mußte sie leben. Als die Tiere dann bis auf eines nicht mehr da waren, war es
das Aufschreiben ihres Berichtes, dessentwegen sie leben mußte. Danach würde
es ganz sicher wieder etwas anderes sein, das sie am Leben hielt.
Die Existenz der Wand wirft also unter anderem solche Fragen auf wie:
- Wofür lebe ich eigentlich?
- Wofür lohnt es sich zu leben?
- Was gibt meinem Leben Sinn?
- Woraus schöpfe ich an jedem Morgen immer wieder neu den Willen und die Kraft
zum Aufstehen?
- Welche Aufgabe stellt mir das Leben in einer scheinbar ausweglosen Lage?
- Welche Fähigkeiten sind mir geschenkt oder welche kann ich in mir entwickeln,
damit ich diese Aufgabe zu lösen vermag?
- Kann ich auch dann noch eine Hoffnung haben, wenn es keine mehr zu geben
scheint?
Der Roman gibt auf diese Fragen, ohne sie etwa in ihrer Schwere unzulässig zu
verharmlosen, durchweg lebensbejahende Antworten und vermittelt damit eine
natürliche optimistische Grundhaltung, eine positive Lebenseinstellung, die Mut
und macht und Zuversicht gibt. Am Ende des Romans, als die Frau ihren Bericht
vollendet, schreibt sie noch hinein:
"Jetzt bin ich ganz ruhig. Ich sehe ein kleines Stück weiter. Ich sehe,
daß das noch nicht das Ende ist. Alles geht weiter."
Fazit
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Die Schriftstellerin Marlen Haushofer, geboren 1920 im oberösterreichischen
Frauenstein und gestorben 1970 in Wien, ist eine bedeutsame Dichterin, in deren
Prosawerk sich viel Poesie findet. Ihr gelang die literarische Gestaltung von
Szenen stark einprägsamer Originalität, leidenschaftlicher Wahrheit und
verblüffender Entfremdung. 1968 erhielt sie den österreichischen Staatspreis
für Literatur. Ihr Thema ist der Mensch in seiner schicksalhaften
Verflochtenheit mit den Gegebenheiten des vielgestaltigen und konfliktreichen
Lebens und wie er sich und seiner Menschlichkeit aber stets treu zu bleiben
versucht. So ist in Marlen Haushofers Werken ein tiefer Humanismus zu finden,
wie er auch in der "Wand" deutlich zu erkennen ist.
Nicht nur, wer sich in einer Lebenskrise befindet, wird diesen Roman mit Gewinn
lesen, er kann jedem Menschen etwas sehr Wertvolles geben: die Anregung, über
sich selbst und sein Leben nachzudenken und möglicherweise bisherige Werte in
Frage zu stellen. Darüber hinaus ist die Lektüre dieses Buches durch ihre
Sprache und die Bilder, die sie in die Vorstellung des Lesers malt, ein
ästhetischer Genuß. Obzwar der 234 Seiten lange fortlaufende und nicht in
Kapitel unterteilte einschichtige Text (der übrigens wohl eher dem Genre der
Erzählung zuzurechnen ist als dem des Romans) auf den ersten oberflächlichen
Blick schwierig zu sein anmutet, hat er doch von der ersten bis zur letzten
Seite eine Faszination auf mich ausgeübt, deren Spannung mich die ganze Zeit
über in Atem hielt. Dieser Roman ist Marlen Haushofers Hauptwerk und, wie Eva
Demski schrieb, eines der Bücher, "für deren Existenz man ein Leben lang
dankbar ist".
Leider ist das erstmals 1968 beim Claassen Verlag GmbH Hildesheim erschienene
Buch schon länger nicht mehr neu aufgelegt worden, es kann aber über
Antiquariate bezogen werden. Auf den Netzseiten von www.amazon.de wird es
beispielsweise als Gebrauchtexemplar für einen Preis zwischen 4,20 und 6,50
Euro angeboten.
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
[Profil]
veröffentlicht am 15. August 2005 2005-08-15 20:18:18