Theodor Storm (1817-1888) pflegte vor und während seiner Ehe mit Constanze
Esmarch eine Beziehung zu Dorothea/Doris Jensen (1828-1903), die er nach dem
Tod seiner ersten Frau heiratete. Wie Doris bei ihrer Begegnung mit Storm ist
auch dessen spätere Frau bei ihrer Verlobung erst 16 Jahre alt. Storm und
Doris Jensen stammen beide aus Husumer Patrizier-Familien, Vater Jensen ist
Holzhändler. Die Familien sind eng miteinander verknüpft, Storms und
Constanzes Mütter sind Schwestern. Mit Storms Schwester Cäcilie ist Doris eng
befreundet, Storms Bruder wird später Doris Schwester Friederike heiraten.
Jochen Missfeldt lässt mit Gustav Hasse einen fiktiven Storm-Biografen
auftreten, der aus seinen Solsbüll-Romanen bekannt ist und u. a. die
Verknüpfung der Romane herstellt. Der junge Hasse reist in dieser
Romanbiografie aus gesundheitlichen Gründen als Besucher auf die Hallig Hooge,
um sich an der See zu erholen. Im Herbst seines Lebens (der in der Gegenwart
angesiedelt ist) blickt Hasse auf die Beziehung zwischen Storm und der anfangs
erst 16-jährigen Chor-Sängerin zurück, deren Chor Storm leitet. Heute würde
die Beziehung zu einer Abhängigen als rücksichtslos und äußerst fragwürdig
gewertet werden.
Aus Briefen und weiteren Quellen entsteht ein faszinierendes Bild eines
bürgerlichen Frauenlebens im 19. Jahrhundert. Vieles Lesen und Schreiben hielt
man damals für Frauen noch für ungesund. Sie wurden zuhause und auf höheren
Töchterschulen für die Ehe mit einem wohlhabenden Mann erzogen, der in der
Lage sein würde, den erträumten bürgerlichen Haushalt zu finanzieren. Die
Erziehung von Doris Schwester Friederike weist der Jüngeren bereits den Weg,
der auch für sie vorgesehen ist. Unverheiratet "als Mamsell"
übrigzubleiben, gehörte zu den schlimmsten Vorstellungen jener Zeit. Selbst
eine Lehrerin konnte nicht heiraten, nachdem sie sich einmal für den Beruf
entschieden hatte. Die ungewöhnlich harschen Urteile über unverheiratete
Frauen sind aus heutiger Sicht schwer zu erklären und lassen an eine Mischung
aus Neid und Existenzängsten denken.
Während Storm außer einem Umzug nach Potsdam weitgehend ungehindert seiner
beruflichen Karriere folgt und später zum Landvogt in Husum ernannt wird,
verbannt die Familie Doris. Um die unschickliche Beziehung zu unterbinden, wird
Doris zunächst nach Segeberg geschickt zu Storms Schwiegereltern. Eine Reihe
von "Verschickungen" schließen sich an, auf die Doris selbst keinen
Einfluss hat. Obwohl sie in den fremden Haushalten ganztags arbeitet, muss für
Doris in mindestens einem Fall sogar Kostgeld gezahlt werden. Als Folge ihrer
unschicklichen Beziehung zu Storm liegen die Nachteile allein auf Doris Seite,
sie wird verschoben wie ein lästiges Möbelstück. Konstante in ihrem Leben als
nicht gerade erwünschtes Haushaltsmitglied bleibt neben ihrer Reisetruhe ein
Wetterglas und später Doris Barometer, das sie zu allen Stationen ihres
unsteten Lebens begleiten wird. Wetterphänomene (Nordlicht, Mondfinsternis,
Sturmflut) spielen für Doris und ihren Biografen eine wichtige Rolle. Doris
Wetterglas symbolisiert auch, dass für eine intelligente berufstätige Frau zu
ihrer Zeit kein Platz vorgesehen war und wie sie jahrelang nirgends Fuss fassen
konnte.
Fazit
Missfeldts Romanbiografie bietet außer dem Einblick in ein Frauenschicksal des
19. Jahrhunderts ein erstaunlich dichtes Bild vom Leben und Arbeiten nahe der
dänischen Grenze. Er vermittelt das Bild einer Frau, die sich behauptet, obwohl
diese Eigenschaft zu ihrer Zeit für Frauen nicht vorgesehen war. Als
renommierter Storm-Biograf lehnt er sich dabei an den Briefwechsel zwischen
Storm und Constanze an; denn über Doris Jensen ist wenig bekannt. Neben
lesenswerten Verknüpfungen zur Entstehung von Storms Texten ragt "Sturm
und Stille", wie bereits "Solsbüll" mit seiner für die Region
und die Epoche authentischen Sprache heraus.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 19. August 2017 2017-08-19 09:02:18