"Möge Allah mir deine Leiche bringen" murmelte Necla Keleks Mutter
jeden Morgen zum Abschied, nachdem sie ihrem Mann, dem "Efendi" die
Schuhe gebunden hatte. Die Kinder hatten ihrem Vater nach alter Tradition bei
seiner Rückkehr auf Zehenspitzen entgegen zu treten und die Hand zu küssen.
Die Autorin beschreibt eine glückliche, freie Kindheit in einer
tscherkessischen Groß-Familie im Istanbul der 60er Jahre. Sie schildert
Freiheiten, von denen Kinder, die in muslimischen Parallelgesellschaften in
Deutschland aufwachsen, nie gehört haben.
In der Türkei gab es schon damals keine Staatsreligion und keinen
Religionsunterricht an Schulen, die Regeln der Scharia prägten erst unter
Erbakan wieder das Alltagsleben. Nach der Ausreise der Familie nach Deutschland
beschloss Keleks nicht besonders gläubiger Vater plötzlich, dass Frauen von
nun an ins Haus gehören sollten. Keleks Erinnerungen an ihre Kindheit sind
geprägt von Erzählungen über den Urgroßvater, der mit schönen Frauen
handelte. Diese Familien-Anekdoten illustrieren nicht-muslimischen Lesern die
Normen patriarchalischer Stammesgesellschaften: Kinder sind Besitz der Eltern
und haben keine eigenen Rechte. Selbst nachdem Atatürk das Kopftuch und den
Fez abgeschafft hatte, war unter neuen Kopfbedeckungen in den Köpfen alles beim
Alten geblieben.
Im zweiten Teil des Buches stellt die Autorin ihre Ergebnisse aus Interviews mit
circa 50 muslimischen Frauen und 100 Jugendlichen der dritten Generation vor;
ihre Interview-Partner fand Kelek unter regelmäßigen Besuchern und
Besucherinnen einer Hamburger Moschee. Kelek kommt zu ernüchternde Ergebnissen:
ein großer Teil der Frauen wird vom Ehemann geschlagen; "beim
Mokka-Trinken arrangierte Ehen" mit unbekannten Partnern sind Standard.
Unter dem Deckmantel der Religion gibt es für Frauen und Mädchen keine
demokratischen Rechte. Die Autorin wirft den westlichen Gesellschaften vor,
religiöse Pseudo-Toleranz wichtiger zu nehmen als die Grundsätze der
Verfassung. Sie fordert ein Mindestalter für Eheschließungen, Sprachprüfungen
für ausländische Ehepartner - auch für Import-Ehemänner - und den Nachweis
eines eigenen Haushalts, bevor eine Zuzugsgenehmigung erteilt wird. Dass
Mehrfach-Ehen und Eheschließungen unter Verwandten vom deutschen Staat
verhindert werden sollten, darin ist Necla Kelek sich mit Ex-Innenminister
Schily einig, der ihr Buch im Spiegel vorstellte.
Fazit
Das ebenso engagierte wie umstrittene Buch schildert fesselnd das Aufwachsen
türkischer Jugendlicher, gibt Einblicke in muslimische Ehen und Familien, in
Werte und Normen, die durch Stammesgesellschaften geprägt sind. Doch fragt sich
die Leserin am Ende, was sich an den Strukturen allein durch rechtsstaatliche
Mittel ändern soll. Unbedingt empfohlen - niemand soll sagen können, er oder
sie hätte nichts gewusst.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 23. Juli 2005 2005-07-23 10:08:23