Oskar Lafontanes: "Politik für alle" ist aus meiner Sicht
enttäuschend. Zwar bilanziert Lafontaine im vorliegenden Werk korrekt, dass die
Leistungen des Sozialstaates durch die Politik der Agenda 2010 abgebaut werden -
er wird nicht müde, die "Politik gegen Rentner, Sozialhilfeempfänger und
Arbeitslose" zu geißeln. Lafontaines zentrale These ist die, dass die
sogenannten "sozialen Schweinereien", wie er die - in der Tat auch aus
meiner Sicht sehr problematischen Arbeitsmarktreformen um Hartz IV bezeichnet,
nicht geschehen wären, wenn die Steuerlast so hoch wäre wie in den
skandinavischen Staaten. Lafontaine plädiert in erster Linie dafür, dass die
Steuerlast gerecht verteilt wird und auch die Reichen ihren Beitrag zur
Finanzierung der Sozialsysteme leisten. Konkret fordert er, dass die deutsche
Steuer- und Abgabenquote schrittweise auf das Niveau Frankreichs gehoben werde
und sich alle Steuerzahler mit mindestens 17,5% ihrer einkünfte an der
Finanzierung des Sozialstaates beteiligen sollten. "Der
Einnkommensmillionär zahlt wieder mehr als der Durchschnittsverdiener."
Lohnerhöhungen müssten im Rahmen der Produktivitätsentwicklung möglich sein
um die Massenkaufkraft zu steigern. Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich
sei kein Rezept, um aus der Krise herauszukommen. Der Mehrheit der
Wirtschaftswissenschaftler wirft er sogenannten "Neoliberalismus" und
eine rein angebotsorientierte Interessenpolitik im Interesse der Reichen vor.
Die Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler und sämtliche im Bundestag
vertretenen Parteien verträgen eine "Reformpolitik", deren Ideen und
Zielsetzungen von den Interessenverbänden der Wirtschaft, von wirtschaftsnahen
Stiftungen und Unternehmensberatungsfirmen ausgearbeitet würden. "Die
SPD-Wähler erleben eine völlig verwandelte Partei, die ihnen erklärt, alles,
was sie ihnen bisher erzählt habe, sei falsch." Lafontaine fordert die
Auflegung eines mehrjährigen öffentlichen Konjunkturprogrammes, die
Einführung einer vermögens- und Erbschaftssteuer wie in den angelsächsischen
Ländern und die Rücknahme der Bestimmung, dass Auslandsverluste in Deutschland
steuermindernd geltend gemacht werden. Weiterhin fordert er die Einführung von
Kapitalverkehrskontrollen und die Einführung der Tobin-Steuer.
Dies sind meines Erachtens durchaus diskussionswürdige und interessante
Gedanken, die sich auch in Gustav Horns: ""Die deutsche Krankheit:
"Sparwut und Sozialabbau" finden. Insbesondere hat Lafontaine damit
recht, dass laut Vermögensbericht der Bundesregierung die Reichen Reicher und
die Armen immer Ärmer werden. Insofern beweist Lafontaine im Gegensatz zu
verkürzten Pauschaldarstellungen über seine Positionen in der Öffentlichkeit
durchaus Sachverstand.
Leider vereinfacht er stellenweise zu sehr, da er ausgesprochen populistisch
argumentiert. Über das Problem der Globalisierung spricht er auf ganzen 11
Seiner knapp 300 Seiten und erklärt, die sogenannten Zwänge der Globalisierung
seien eine faule Ausrede und dienten zur Rechtfertigung der Reformpolitik durch
die herrschenden Eliten.
Hier argumentiert mir Lafontaine zu plakativ. Das Problem liegt - und hier
unterscheidet sich Lafontaines Kritik am Abbau der Sozialleistungen nicht von
anderen ähnlich gelagerten Publikationen, etwa Friedhelm Hengsbachs oder
Albrecht Müllers - nicht an der Diagnose. Die Beobachtungen - Einschränkung
der staatlichen Sozialleistungen für weite Bevölkerungsteile, ungerechte
Vermögensverteilung, schärferer Gegensatz zwischen Arm und Reich (wie die
jährlichen Armutsberichte der Bundesregierung auch zeigen) sind - wie oben
gezeigt - durchaus zutreffend. Das Problem liegt darin, dass Lafontaine - wie
auch die anderen Autoren - keine überzeugende Lösung der Probleme, die durch
die Globalisierung entstehen anbieten kann. Man lese etwa hierzu Erhard Epplers
neues Buch: "Auslaufmodell Staat", welches sich mit den Problemen der
Globalisierung und den daraus resultierenden Aufgaben des Staates ergibt. Eppler
entwirft - im Gegensatz zu Lafontaine - eine "sozialdemokratische
Perspektive" eines "starken Staates" im Zeitalter der
Globalisierung und nimmt diese ernst. Im Gegensatz zu Lafontaine qualifiziert
Eppler die Globalisierung nicht als Schimäre einfach ab. Es ist doch so, dass
aufgrund der Globaisierung ein reaktiver "Globalisierungsdruck" auf
die Schwellenländer entsteht. Transnationale Unternehmen lagern Arbeitsplätze
in Billiglohnländer aus. Die Konsequenzen für die Wirtschaft sind - wie es der
Spiegel 38/2004 zutreffend schildert - vorhersehbar. Erhöht er die
Sozialbeiträge, macht der Staat die Arbeit teurer - und vernichtet damit weiter
Jobs. Hebt er dagegen die Steuern an, um den Staatszuschuss zu den Sozialkassen
zu erhöhen, belastet er Unternehmen (die verstärkt abwandern bzw. in
Deutschland nicht investieren)noch stärker und ebenso die Verbraucher.
Finanziert der Staat die zusätzlichen Kosten mit neuen Schulden, zerrüttet er
die Staatsfinanzen endgültig. Ohne die von Hengsbach kritisierten Reformen -
etwa die Agenda 2010 - ist der Sozialstaat heutiger Form nicht mehr
finanzierbar. Das Münchener Ifo-Institut hat laut obigem Spiegelbericht
konstatiert, dass ohne Reformen sich entweder die Staatsverschuldung
verdreifacht, oder die Rentenbeiträge um ein weiteres Viertel steigen (bei
einem Abfall des Rentenniveaus um rund 20%) oder die Ausgaben der
Pflegeversicherung sich angesichts der demographischen Entwicklung verdoppelten
und die Krankenkassenbeiträge um über 20% stiegen. In zwei Szenarien kommt das
Ifo-Institut zu dem Ergebnis, dass ohne Reformen die Statsquote zwar zunächst
sinke, um dann jedoch bis 2050 auf 51,6 oder - in einer ungünstigeren Variante
- auf 53,7% klettere. In allen Szenarien zeigten die Indikatorwerte an, dass
weiterhin finanzpolitischer Handlungsbedarf bestünde, um die langfristige
Tagfähigkeit der öffentlichen Finanzen sicherzustellen. Entschliesse sich die
Politik, die Sozialabgaben mit Rücksicht auf den Arbeitsmarkt konstant zu
halten und die Steuern nicht zu erhöhen, müsse der Staat sich weiter
verschulden. Bis 2050 steige dann die Verschuldung auf 7,6%, doppelt so hoch,
wie es der Euro-Stabilitätspakt erlaube (3% des Bruttoinlandsproduktes dürfen
an Verschuldung nicht überschritten werden). Der Schuldenstand würde
explodieren. Im Klartext: Wollten die Deutschen des Jahres 2050 ihren
Schuldenberg abtragen, müssten sie mehr als zwei Jahre alles Geld, das sie
verdienen und erwirtschaften, dem Staat abliefern, damit der seine Schulden
zurückzahlen kann.
Auf diese Probleme geht Lafontaine nicht ein. Kritik am Sozialabbau - so
berechtigt sie im Einzelnen sein mag - kann nicht mit Pauschalkritik an der
Globalisierung als "faule Ausrede" abgespeist werden. Richtig wäre,
dass sich alle Bevölkerungsgruppen - und nicht nur die Arbeitnehmer - an der
Finanzierung des Sozialstaates beteiligten - also auch Beamte oder
Selbstständige. Dies ist sicherlich schmerzhaft für jene Gruppen, wäre aber
ein Akt der Solidarität. Dann würde die - zu recht beklagte -
Verteilungsungerechtigkeit - abnehmen. Diese Alternativen benennt Lafontaine -
ähnlich wie Horn - in seinem Buch.
So plausibel die Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik auch ist, an den
oben skizzierten Fakten kommt keine Regierung vorbei - Reformen bedeuten
heutzutage - im Gegensatz zum 19. Jahrhundert - Leistungsabbau. Daran hilft auch
Kritik an diesen Erscheinungen oder eine recht einseitige Kritik am
Globalisierungsbegriff meines Erachtens nicht weiter.
Fazit
Gute Diagnose der Probleme des Sozialabbaues aber ohne letztlich überzeugende
Angebote, wie die Finanzierungsprobleme des Sozialstaates ohne die kritisierten
Reformen behoben werden können. Die Lösungsvorschläge, die Lafontaine
anbietet, sind meines Erachtens von einer nationalen Regierung alleine nicht
durchführbar, sondern müssen welt- oder EU-weit Zustimmung finden. Das Buch
ist daher lesenswert mit Alternativen aber ohne eine letztlich befriedigende
Antwort auf die Probleme der "Globalisierung". Als Ergänzung seien
die Bücher von Horn und Eppler empfohlen. Die Gegenthesen zu Lafontaine werden
am deutlichsten von dem Wirtschaftswissenschaftler Sinn in seinem Buch:
"Ist Deutschland noch zu retten?" vertreten. Dieses Buch sollte als
Ergänzung daher unbedingt herangezogen werden, um sich eine differenzierte
Meinung zu den wirtschaftspolitischen Problemen Deutschlands in Folge der
Globalisierung zu bilden.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 09. Juli 2005 2005-07-09 17:22:53