Zum wichtigsten Handwerkszeug für meine Arbeit gehören die Bücher von
Ruediger Dahlke. Sie haben mein Weltbild gehörig verändert und mich ein ganz
anderes Verhältnis zu Krankheit und Leben finden lassen.
Ruediger Dahlkes Werk "Krankheit als Sprache der Seele. Be-Deutung und
Chance der Krankheitsbilder" (Bertelsmann, München 1992), zu dem ich
diesen Erfahrungsbericht schreibe, ist die Fortsetzung und Weiterführung der
1983 zusammen mit Thorwald Dethlefsen im selben Verlag herausgegebenen
Veröffentlichung "Krankheit als Weg".Der erste Band hatte mit dem
neuen psychosomatischen Konzept sofort sehr viel Anklang bei Laien und (später
zunehmend auch) in medizinischen Fachkreisen gefunden. Es ging und geht nun auch
in diesem zweiten Teil um ein Krankheitsverständnis, in welchem Form und
Inhalt, Körper und Seele wieder - wie im frühesten Wissen der Menschheit -
vereinigt sind.
Beide Bände beruhen auf einer in unserem gesellschaftlichen Bewußtsein weithin
unbeachteten Theorie, die ich in folgenden Thesen zusammenfassen möchte:
1. Es gibt nicht verschiedene Krankheiten, so wie es auch nicht verschiedene
"Gesundheiten" gibt; wir befinden uns entweder im Zustand der
Gesundheit oder im Zustand der Krankheit. Befinden wir uns in letzterem, so ist
niemals nur ein Organ oder ein Körperteil krank, sondern immer der ganze
Mensch.
2. Krankheit bedeutet den Verlust einer Ausgewogenheit, einer ausbalancierten
Ordnung im Bewußtsein des Menschen, der sich als Symptom im Körper zeigt.
Krankheitssymptome sind demzufolge stets Ausdrucksformen seelischer
Konflikte.
3. Manifestiert sich im Körper ein Symptom, so zwingt es den Menschen, seine
gewohnte Lebensführung zu unterbrechen und aufmerksam zu werden auf die in der
Bewußtseinsebene liegende Ursache der Störung.
4. Das Krankheitssymptom ist nicht, wie die Schulmedizin (im Gegensatz zu
Hippokrates) meint, ein mehr oder minder zufälliges Ereignis ohne tiefere
Bedeutung, sondern ein Signal, das auf seinen eigentlichen Sinn für den
Menschen aufmerksam machen will. Deshalb ist es auch nicht das Ziel wirklicher
Heilung (im Sinne von Heil-[=Ganz-]Werdung!), Krankheitssymptome zu bekämpfen,
sondern sie zu verstehen. (Dafür benutzt Dahlke einen, wie ich finde,
einleuchtenden Vergleich: Wenn am Armaturenbrett des Autos eine Kontrollampe
aufleuchtet, so würde es nicht genügen, sie zu entfernen, damit das Signal
aufhört; man muß herausfinden, auf welchen verborgenen Fehler im Fahrzeug sie
hinweist.)
5. Krankheit läßt sich nicht hinreichend aus einer Kausalkette von äußeren
Ursachen in der Vergangenheit erklären (Warum habe ich eine Erkältung? Weil
ich infiziert worden bin. - Warum bin ich infiziert worden? Weil mein
Immunsystem schwach ist. - Warum ist mein Immunsystem schwach? Weil ich es von
meinen Eltern so geerbt habe. - Irgendwann, so Dahlke, würde man mit dieser
Fragetechnik beim Urknall ankommen), sondern aus einer Absicht, die in der
Zukunft liegt. (Der Leichtathlet läuft nicht nur deshalb los, weil er das
Startsignal gehört hat, sondern hauptsächlich wohl, weil er gewinnen will.)
6. Insofern ist Krankheit auch nicht ein lästiges Schicksal, sondern eine
Chance: Sie enthüllt uns eine Botschaft über uns und eine Aufgabe, die uns
gegeben ist. Krankheit will uns zu einer Weiterentwicklung verhelfen und bekommt
dadurch Sinnhaftigkeit.
7. Dieser Sinn, den es zu finden gilt, drückt sich in Symbolen aus, die zu
deuten sind. (Unsere Sprache weist naturgemäß auf diesen Zusammenhang zwischen
Psychischem und Physischem hin: Ärger schlägt mir auf den Magen, ein Konflikt
geht mir an die Nieren; eine Enttäuschung nehme ich mir zu Herzen usw.)
Das Buch enthält nach einer Einführung in Dahlkes Lehre interessante Gedanken
zu Ritualen in unserer Gesellschaft (Übergangsrituale, Rituale in der alten und
in der modernen Medizin, Krankheit als Ritual), gibt praktische Hinweise zur
Symptom-Deutung und wendet sich im Hauptteil dann der exemplarischen Bearbeitung
von Krankheitsbildern zu.
In 24 Kapiteln werden Deutungsversuche häufig vorkommender Erscheinungsformen
von Krankheit vorgestellt, so unter anderem: Krebs, Tinnitus, Nasenbeinbruch,
Gehirnerschütterung, Schüttellähmung, Schlaganfall, Epilepsie,
Querschnittslähmung, Gürtelrose, Achillessehnenriß, Fußpilz, Alzheimersche
Krankheit.
Der Autor versäumt es dabei jedoch nicht, immer wieder darauf hinzuweisen, daß
mit der Deutung von Krankheitsbildern sehr verantwortungsbewußt umgegangen
werden muß, um Patienten nicht zu verunsichern, und daß keine Schuldgefühle
bei ihnen hervorgerufen werden und sie keinesfalls vom Arztbesuch abgehalten
werden dürfen. Diese Hinweise halte ich für besonders wichtig, zumal ich
befürchte, daß Leser(inne)n, die Dahlkes Anliegen nicht im vollen Umfang
verstehen, in ihrem Verhalten gegenüber eigener und fremder Krankheit leicht
Einschätzungsfehler unterlaufen können.
Zwischen den einzelnen Kapiteln sind Fragen zur Selbstkontrolle eingefügt, die
ich sehr nützlich finde, weil sie ein gründliches weiteres Nachdenken
herausfordern. Ein umfangreicher Anmerkungsteil und ein ausführliches Register
sowie eine Liste der Veröffentlichungen Dahlkes komplettieren diesen Band von
447 Seiten.
Fazit
Mich hat die Durcharbeitung dieses sehr anspruchsvollen Buches einerseits viel
Mühe gekostet, andererseits aber auch reich belohnt mit interessanten
Denkanstößen und wertvollen Erkenntnissen. Nicht allem, was darin steht, kann
ich rückhaltlos zustimmen, aber es hat meinen Horizont geweitet und ist mir
eine unschätzbare Diskussionsgrundlage im privaten wie im professionellen
Bereich geworden.
Ich kann es jedem aufgeschlossenen, bildungshungrigen und unvoreingenommenen
Leser, der gern Lesevergnügen mit Lesemühe verbindet, nur sehr empfehlen!
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
[Profil]
veröffentlicht am 27. November 2002 2002-11-27 00:00:01