Wenn ich an die Bücher denke, die mich tagelang und halbe Nächte hindurch
fesselten und in Atem hielten, dann fällt mir sofort auch Goethes
"Italienische Reise" ein, die ich wohl an die dutzendmal mit derselben
Glut der Begeisterung und doch immer wieder auch mit neuen Eindrücken gelesen
habe. Die Beschreibung seines Italien-Aufenthalts schließt an "Dichtung
und Wahrheit", die Lebenserinnerungen des Weimarer Ministers und
Geheimrates, an, und sie tut es auf die gleiche spannende und eindrucksvolle
Darstellungsweise, die auch dem alten Goethe noch eigen ist und die in mir das
längst vergangene XVIII. Jahrhundert lebendig werden läßt.
Wir wissen, daß es eine Flucht ist, die den 37jährigen Johann Wolfgang Goethe
der kleinen Residenzstadt Weimar für anderthalb Jahre den Rücken kehren
läßt, ein gewaltsames Losreißen von der höfischen Gebundenheit, ehe er im
Dunst der Unproduktivität gänzlich zu versinken droht. Er will die
Schaffenskrise überwinden, in die er der profanen Regierungsgeschäfte und der
Provinzialität der Verhältnisse wegen geraten ist, will einen neuen Ansatz
finden, um seinen Lebensplan zu erfüllen. Heimlich - einzig sein Diener und
Freund Philipp Seidel ist eingeweiht - verläßt er am 3. September 1786
Karlsbad, wo er zur Kur weilt, und jagt mit schnellen Postpferden über den
Brenner Italien entgegen. Vom Herzog hatte er sich vorsorglich für längere
Zeit Urlaub erbeten. Und in der Tat ganz wie ein Flüchtender reist er unter
fremdem Namen (Philipp Möller) und sendet lange keine Zeile nach Hause.
Charlotte von Stein wird ihm das nie verzeihen können. Am Gardasee erlebt er
zehn Tage nach seiner hastigen Abreise in der warmen italienischen Luft und in
der Helle des Südens, wie er schreibt, eine "Wiedergeburt". In
Verona, Vicenza und Venedig legt Goethe längere Aufenthalte ein, bevor es
eilends dem eigentlichen Ziel seiner Sehnsucht zugeht: Rom. In der "Ewigen
Stadt", der Hauptstadt der Antike, dem Zentrum der Renaissance soll sein
Leben Anregungen erhalten für einen tiefen und umfassenden geistigen und
seelischen Neubeginn. Am 29. Oktober 1786 trifft er dort ein und teilt daheim
seine Ankunft mit. Er bleibt in Italien bis Ende Mai 1788 und kehrt, seinen
Worten nach, als "neuer Mensch" zurück.
Immer wenn ich mich auf die Beschreibung dieser Reise einlasse, mache ich sie im
Geiste gleichsam mit, denn ich kann mich, lesend, der Luft nicht entziehen, die
er atmete, und ich wünschte, ich könnte tatsächlich einmal seinen Fußstapfen
folgen, wenn auch das heutige Italien freilich ein ganz anderes geworden ist.
Ich erinnere mich seines Reisebettes, seines Rasierzeugs und anderer Utensilien,
die er mit sich führte und die ich im Goethe-Nationalmuseum Weimar betrachten
konnte, ich sehe seine Zeichnungen vor mir und Heinrich Wilhelm Tischbeins
berühmtes Ölgemälde von ihm, auf dem er mit weitkrempigem Hut auf einem
umgestürzten Baumstumpf in der Campagna di Roma sitzend zu sehen ist, und seine
Aufzeichnungen werden zu einem Film in meinem Kopf. Ich erlebe beim Lesen mit,
wie befreiend es ist, wenn man aus der Enge in die Weite kommt; wenn man in eine
neue Welt eintaucht, mit der man sich schon lange innerlich verbunden weiß;
wenn man von neuen Lebensgeistern erfüllt wird, die man schon zu lange
herbeisehnte. Und ich fühle es dem Autor auf jeder Buchseite nach, wie
berauschend es für einen bildungshungrigen Menschen sein kann, an der Quelle
unserer Kultur eine solche Fülle von Impulsen für das Aufladen einer fast
leeren Batterie zu bekommen, wie es Goethe in seiner Italien-Zeit vergönnt war,
die er später als die wichtigste seines Lebens bezeichnet hat.
"... habe ich genug Zeit, die Eindrücke der vergangenen Monate wieder
hervorzurufen; es geschieht mit vielem Behagen", schreibt Goethe auf seinem
Heimweg nach Weimar. Und bedauernd fügt er hinzu: "Und doch tritt gar oft
das Lückenhafte der Bemerkungen hervor, und wenn die Reise dem, der sie
vollbracht hat, in einem Flusse vorüberzuziehen scheint, und in der
Einbildungskraft als eine stetige Folge hervortritt, so fühlt man doch, daß
eine eigentliche Mitteilung unmöglich sei. Der Erzählende muß alles einzeln
hinstellen: wie soll daraus in der Seele des dritten ein Ganzes gebildet
werden?" Trotzdem: Die "Italienische Reise" (mit ihrem Anhang
"Zweiter römischer Aufenthalt") ist ein umfassendes Reise-Tagebuch,
das dem, der nicht dabei war, sehr viel nacherlebbar macht. Die erste Eintragung
ist vom 3. September 1786 datiert, und die letzte trägt das Datum vom 14. April
1788. Auf etwa 450 bis 500 Seiten (in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausgabe)
hält Goethe an vielen Tagen - zuweilen kurz und knapp, meist aber mit großer
Ausführlichkeit und Anschaulichkeit - seine Erlebnisse fest. Er beschreibt den
genommenen Weg, Land und Leute und die Stationen seiner Rast, schildert
Begegnungen mit bekannten Zeitgenossen, erzählt in Rückblenden von früheren
Erlebnissen, reflektiert über das Wetter, über seine unterwegs wachsende
Gesteinssammlung, über das Leben der italienischen Weinbauern und Handwerker,
über antike Bauwerke und Plastiken, über Fortschritte in der Arbeit an seinen
Werken, über geographische, geologische, historische, meteorologische,
philosophische, soziologische (wenngleich es diesen Begriff damals noch nicht
gab), kunstgeschichtliche und kunsttheoretische Fragen - kurz über Gott und die
Welt im großen wie im kleinen. Er flicht Episoden und Anekdoten, Gespräche und
Betrachtungen, Briefe, Skizzen und Zeichnungen sowie naturwissenschaftliche
Überlegungen ein, so z.B. einen von ihm entworfenen "Vergleichskreis der
italienischen und deutschen Uhr".
Gegliedert ist das Tagebuch nach den Stationen seiner Reise:
- Karlsbad bis auf den Brenner
- Vom Brenner bis Verona
- Verona bis Venedig
- Ferrara bis Rom
- Rom
- Neapel - Sizilien und nochmals
- Neapel
Der Anhang enthält vor allem Korrespondenz, Berichte über Italien und seine
Sitten und Bräuche, z.B über den römischen Karneval, Porträts über
Zeitgenossen und historische Persönlichkeiten, so u.a. Philipp Neri. Das Buch
bildet trotz einem großen Formenreichtum ein stilistisch einheitliches Ganzes,
das durch eine große Lebendigkeit und Bildhaftigkeit der Sprache besticht.
Fazit
Die Befürchtung der heutigen jüngeren Generation, ein Text, der älter als
zweihundert Jahre ist, müsse langweilig und schwierig zu lesen sein, ist
spätestens nach den ersten Seiten verflogen, und Begeisterung tritt an ihre
Stelle und das Wissen darum, daß der Leser/die Leserin ein Buch in den Händen
hält, das - wie alle große Literatur - viel zeitlos Gültiges enthält und
immer für einen hohen Lesegenuß und Erkenntnisgewinn sorgen wird.
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
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veröffentlicht am 27. November 2002 2002-11-27 00:00:01