Der vorliegende, sehr gut illustrierte Sammelband von Jürgen Zimmerer und
Joachim Zeller bietet einen hervorragenden Einstieg, will man sich näher mit
dem "ersten Genozid der deutschen Geschichte" auseinandersetzen. Die
beiden Herausgeber sowie 14 weitere AutorInnen bieten mit 18 Aufsätzen einen
guten Überblick über die Vorgeschichte, den Verlauf und die Folgen des Krieges
gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika. Thematisch gegliedert ist
das Werk nach Beiträgen zur Vorkriegszeit, dem Kolonialkrieg 1904-1908 sowie
der Nachkriegszeit. Besonders verdienstvoll ist das Bemühen der Herausgeber mit
einem vierten Themenbereich neben der deutschen auch die afrikanische
Perspektive in den Blick zu nehmen.
Im einleitenden Aufsatz beschreibt Gesine Krüger den wirtschaftlichen
Aufschwung innerhalb der Herero-Gesellschaft im 19. Jahrhundert und den damit
verbundenen sozialen Wandel. Die Darstellung der zahlreichen wirtschaftlichen
und diplomatischen Kontakte der Herero-Gesellschaft mit anderen afrikanischen
Gesellschaften sowie der Nachweis, dass die Herero moderne Strategien der
Herrschaftssicherung verfolgten dienen Krüger, die weit verbreitete These der
"Geschichtslosigkeit" afrikanischer Gemeinwesen zu widerlegen.
Der Ansicht, Deutsch-Südwestafrika sei ein kolonialer Musterstaat gewesen,
widerspricht Jürgen Zimmerer im zweiten Aufsatz. Die Diskussion um die
"Mischehenfrage" sowie die sogenannten
"Eingeborenenverordnungen" werden vom Autor herangezogen, um zu
verdeutlichen, dass die Kolonie zwar in eine an vormodernen Vorstellungen
orientierte "rassische Privilegiengesellschaft" transformiert werden
sollte, der Staat die indigene Bevölkerung aber zu keiner Zeit zu bloßen
Objekten administrativer Entscheidungen herabsetzen konnte.
Der zweite Themenbereich ist dem Kolonialkrieg 1904-1908 gewidmet und wird durch
einen weiteren Beitrag Zimmerers eingeleitet. Detailliert werden Ursachen und
Verlauf des Krieges beschrieben. Befehle und Aussagen verantwortlicher Offiziere
und Politiker sowie der Verweis auf die Kriegstaktik und die Bedingungen in den
von Deutschen errichteten Konzentrationslagern belegen die These, der Krieg
gegen die Herero sei der erste deutsche Vernichtungskrieg gewesen - der
Heranziehung der UN-Völkermord-Konvention durch den Autor hätte es dazu gar
nicht mehr bedurft. Kritisch zu hinterfragen ist der Verweis auf die Bedeutung
des Völkermordes an den Herero und Nama als Vorgeschichte des Holocaust. Zwar
ist der Hinweis berechtigt, dass angesichts der kurzen Zeitspanne zwischen
"dem ersten und dem zweiten von Deutschen verübten Völkermord" das
"Fehlen eines Zusammenhanges erstaunlicher als dessen Vorhandensein"
sei. Betrachtet man jedoch die Praxis anderer Kolonialmächte, etwa Belgiens im
Kongo, kommt - ohne die Verbrechen in Deutsch-Südwestafrika relativieren zu
wollen - der Verdacht einer allzu teleologischen Interpretation auf.
Aufschlussreich ist Merdarus Brehls Aufsatz über die "Vernichtung der
Herero und Nama in der deutschen (Populär-)Literatur". Anhand der Flut
zeitgenössischer Publikationen, deren Auflage und Verbreitungsgrad weist Brehl
zum einen nach, dass der Krieg kein randständiges Thema, sondern geradezu ein
"Diskursereignis" gewesen ist. Zum anderen gelingt es ihm deutlich zu
machen, dass die absichtsvolle Vernichtung der Herero und Nama in der
zeitgenössischen Diskussion weder bestritten noch bagatellisiert wurde, sondern
im Gegenteil als "sinnvoller und gerechtfertigter Beitrag im Vollzug [...]
eines allgemeinen Prozesses der Entwicklung einer Weltkultur gedeutet"
wurde.
In zwei gesonderten Beiträgen schildern Joachim Zeller und Caspar W. Erichsen
die Geschichte und Funktion der Konzentrationslager in Swakopmund und auf der
Haifischinsel, in denen unterschiedslos Männer, Frauen und Kinder interniert
wurden. Die Autoren weisen nach, dass die Behandlung der Kriegsgefangenen
angesichts chronischer Mangelernährung, völlig unzureichender medizinischer
Versorgung und der extremen Bedingungen der Zwangsarbeit als eine Fortführung
der Vernichtungspolitik bezeichnet werden muss.
Der dritte Themenkomplex versammelt Aufsätze, die sich mit der afrikanischen
Perspektive befassen. Einleitend zeichnet Jan Bart Gewald die soziokulturelle
Entwicklung der Herero in den Vorkriegsjahren und insbesondere den Aufstieg und
die Herrschaftspraxis Samuel Mahareros nach. Geschildert wird zudem der
Kriegsverlauf und die Folgen der Kolonisierung. Kritisch zu hinterfragen ist
jedoch Gewalds Interpretation der Kriegsursache, die er im Verfolgungswahn
deutscher Siedler sowie im betrügerischen und unüberlegten Verhalten eines
deutschen Leutnants sieht. Es ist davon auszugehen, dass das Fehlverhalten eines
deutschen Offiziers, wenn überhaupt Ausschlag gebend, lediglich der Auslöser,
nicht jedoch der Grund des Krieges war. Diesen sollte man tatsächlich in der
immer drängenderen Landfrage, der Problematik eines dualen Rechtssystems für
Indigene und Deutsche, einer rücksichtsloseren Eintreibung von Schulden durch
deutsche Händler und wohl nicht zuletzt auch in den ökonomischen und sozialen
Folgen der 1896 ausgebrochenen verheerenden Rinderpest suchen. Verdienstvoll ist
jedoch der Hinweis auf den Reorganisationsprozess innerhalb der
Herero-Gesellschaft, der die weitverbreitete Vorstellung, der Krieg habe mit der
völligen Vernichtung der Herero-Gesellschaft geendet, widerlegt. Tatsächlich
war die Position der Herero zum Zeitpunkt der südafrikanischen Invasion 1915
wieder derart gestärkt, dass sich die neue Verwaltung gezwungen sah, mit ihnen
in Verhandlungen zu treten.
Aspekte des Schicksals von Frauen im Kolonialkrieg schildert Gesine Krüger in
einem weiteren Beitrag. Insbesondere wird untersucht, inwieweit Frauen "als
Bestien und Opfer im Mittelpunkt von Phantasien, Zuschreibungen und
Recht-fertigungsstrategien des Militärs, einzelner Soldaten und in der
Öffentlichkeit" standen. Besonderen Raum nimmt hier die Analyse die
Wirkungsweise der deutschen Kolonialpropaganda ein, in der Herero-Frauen fast
ausschließlich als "rachedurstige und entfesselte Bestien"
erschienen, während gleichzeitig und zum Teil wider besseren Wissens immer
wieder Gerüchte über ermordete und missbrauchte weiße Frauen lanciert wurden.
Aber auch die afrikanische Perspektive wird von Krüger beleuchtet, indem sie
Texte der oralen Literatur über die Flucht der Herero durch die Omaheke
analysiert.
Der abschließende Themenbereich über die Nachkriegszeit wird durch einen
weiteren Artikel Jan-Bart Gewalds eingeleitet, der die Bedeutung der Beerdigung
Samuel Mahareros 1923 für die Reorganisation der Herero schildert.
Joachim Zeller geht in einem zweiten Beitrag auf die kolonialdeutsche
Erinnerungskultur ein, wobei er insbesondere die Bedeutung und Funktion der in
Deutschland und Namibia errichteten Krieger- und Kolonialdenkmäler
herausarbeitet. Zwar mag man seinem Urteil beistimmen, dass die Vernichtung der
Herero und Nama nach 1945 in beiden deutschen Staaten völlig in Vergessenheit
geriet. Dass aber auch die Geschichtsschreibung "ihr kaum Aufmerksamkeit
[widmete]", mag vielleicht für die unmittelbare Nachkriegszeit gelten, ist
aber spätestens mit dem Erscheinen der beiden Standardwerke von Drechsler und
Bley Ende der sechziger Jahre nicht mehr der Fall.
Im abschließenden Beitrag gibt Andreas Eckert zunächst einen Überblick über
den Forschungsstand und hinterfragt kritisch die Namibia-Präferenz der
aktuellen Forschung. Eckert verneint die These eines "kolonialen
Sonderweges" Deutschlands mit dem Verweis auf das "generelle, sich aus
enttäuschten Allmachtsphantasien und Ängsten speisende und immer wieder
entladende Gewaltpotential von kolonialen Siedlerschaften". Auch der Frage
nach Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus geht Eckert
nach. Zwar stünde die nationalsozialistische Eroberungs- und
Vernichtungspolitik mit ihren zentralen Begriffen "Rasse" und
"Raum" in der Traditionslinie des europäischen Kolonialismus und in
den Kolonialkriegen sei auch erstmals "das letzte Tabu", nämlich die
gezielte Vernichtung anderer Ethnien, gebrochen worden. Mit Verweis auf die
"zu komplex[e] und eklektizistisch[e]" Politik und Ideologie des
Nationalsozialismus verneint der Autor jedoch die Möglichkeit einer gradlinigen
Zurückführung der nationalsozialistischen Verbrechen auf den deutschen
Kolonialismus. Berechtigt ist die Forderung des Autors, dass die vergleichende
Genozidforschung noch systematischer mit der Erforschung des Kolonialismus
verknüpft werden muss.
Fazit
An dem insgesamt empfehlenswerten Band sind noch weitere Autoren beteiligt (u.
a. Ulrich van der Heyden, der über die "Hottentottenwahlen" 1907
informiert). Besonders hervorzuheben ist, dass der gängigen eurozentristischen
Sichtweise die afrikanische Perspektive entgegengesetzt wird und dem Leser so
deutlich wird, dass die deutsche Kolonialmacht zum einen nicht gegen
"vorgeschichtliche[...] Stämme" kämpfte, zum anderen aber nach Ende
des Vernichtungskrieges in der Kolonie auch nicht die "Ruhe des
Friedhofs" (Drechsler) herrschte. Den Herausgebern ist es gelungen, eine
höchst lesenswerte Aufsatzsammlung zusammenzustellen, die zum einen den
aktuellen Forschungsstand wiederspiegelt, es zum anderen aber auch Laien
ermöglicht, sich über ein Thema zu informieren, das "zweifelsohne zu den
dunkelsten Kapiteln des europäischen Kolonialismus" gehört. Es bleibt die
(zynische) Hoffnung, dass sich anlässlich des hundertjährigen Jahrestages des
Kriegsausbruchs eine breitere Öffentlichkeit eines Themas kritisch annimmt, das
"im kollektiven Bewusstsein der Deutschen weitgehend vergessen ist, [...]
für Namibia [jedoch] bis heute ein nationales Trauma darstellt."
Vorgeschlagen von florianbeer
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veröffentlicht am 28. März 2005 2005-03-28 11:21:21