Ich habe mit großem Interesse das Buch: Stalin und Schostakowitsch gelesen. Zum
einen interessiere ich mich sehr für die russische Geschichte des 20.
Jahrhunderts und liebe auch die russische Musik, insbesondere die Werke
Schostakowitschs, Chatchaturians und Prokowjews. Nun hatte insbesondere
Schostakowitsch in der bisherigen westlichen Presse immer den Ruf eines
systemtreuen Künstlers, eines Opportunisten. Als Beleg dafür nannten
amerikanische Biographen seine Unterschrift unter einen Brief gegen Andrej
Sacharow von 1973, kurz vor dem Tode des Autors.
Dieses Bild eines karrierelosen Opportunisten wird in dieser meisterhaft
geschriebenen Biographie seines Mitarbeiters Wolkow gründlich korrigiert. Ich
habe - mit Ausnahme von Rybakows: Die Kinder vom Arbat - noch nie ein derart
eindrucksvolles Buch über die Situation der Künstler und Schriftsteller im
Stalinismus gelesen, wie es in dieser Biographie dargestellt wird. Sie zeigt
exemplarisch auch die Leiden des russischen Volkes unter Stalin auf. Außerdem
wird die wunderbare Musik Schostakowitschs interpretiert - etwa seine berühmte
10. und 11. Symphonie, die in den Noten versteckte autobiographische Andeutungen
enthält. Schostakowitsch habe sich als "Gottesnarr" verstanden, als
einer derjenigen Figuren aus der russischen Geschichte, die dem Tyrannen
furchtlos die Wahrheit ins Gesicht sagten. Schostakowitsch sei ein Mensch
gewesen, der sich "Wie wenige sonst in die Lage und die Erlebnisse eines
anderen Menschen oder einer Menschengruppe hineinversetzen" konnte;
"das Unrecht, das anderen widerfuhr, litt er fast physisch mit. Diese
Mischung aus Sensibilität und Vorstellungsvermögen, die von den Griechen als
"sympathein", als Mit-Leiden bezeichnet wurde, hoben viele von
Schostakowitschs Freunden als bestimmende Charaktereigenschaften bei ihm
hervor." (S. 74). Er erinnert meiner Meinung nach sehr stark an Alexej, den
jüngsten von Dostojewskis "Brüdern Karamassow." Es ist, als hätte
Dostojewski Schostakowtisch gekannt und als Vorbild für die Charakterzeichnung
Alexejs benutzt. Schostakowitschs Verhältnis zu Stalin sei vergleichbar mit dem
Verhältnis Puschkins zu Nikolaus I., wie es auch zahlreiche Ähnlichkeiten
zwischen Nikolaus und Stalin gäbe. Dies wird ausführlich in dem interessanten
Eingangskapitel "Zaren und Poeten" erläutert. Als Beispiel für den
persönlichen Mut des Komponisten hebt Wolkow hervor, dass sich Schostakowitsch
bei einer Begegnung mit Stalin sehr für einen nicht anwesenden Musiker
einsetzte. Bei ihrer Begegnung anläßlich eines Wettbewerbs um eine neue
russische Nationalhymne 1943 heißt es: "Sie musterten sich neugierig: der
Staatsführer, mittelgroß, breitschultrig, mit pockennarbigem Gesicht...und der
bekannte "ernste" Komponist des Landes, die Brille auf der Nase und
die ewig jugendliche Locke in der Stirn..."Ihre Musik ist sehr gut",
sagte Stalin zu Schostakowitsch. "Aber was soll ich machen, Alexandrows
Lied mit seinem feierlichen Klang passt besser als Hymne." Er drehte sich
zu seinen Genossen um: "Ich denke, wir sollten Alexandrows Musik nehmen,
und was Schostakowitsch angeht..." An dieser Stelle hielt er inne, und
Schostakowitsch dachte..., er würde fortfahren: "..., so bringt ihn auf
den Hof hinaus und erschießt ihn." Doch der Diktatur beendete seinen Satz
auf andere Weise: "Was Schostakowitsch angeht, so sollte man ihm
danken." Dann wandte er sich an Alexandrow, der ebenfalls dort war.
"Aber Professor, da stimmt etwas mit der Orchestrierung nicht."
Alexandrow begann Ausflüchte zu machen. Die Zeit sei knapp gewesen, und er habe
seinem Vertreter, Viktor Knuschewizki, die Orchestrierung überlassen; dieser
habe offenbar schlechte Arbeit geleistet. Schostakowitsch explodierte.
"Schämen Sie sich, Alexander Wassiljewitsch", fiel er Alexandrow ins
Wort. "Sie wissen sehr gut, dass Knuschewitzki ein Meister auf seinem
Gebiet ist, ein hervorragender Arrangeur. sie erheben ungerechte Vorwürfe gegen
Ihren Untergebenen, und das hinter seinem Rücken, ohne dass er sich wehren
kann. Schämen Sie sich!" Stille trat ein. Alle Anwesenden warteten
gespannt darauf, wie Stalin auf dieses außergewöhnliche Verhalten reagieren
würde. Stalin zog an seiner Pfeife und schaute interessiert zwischen
Schostakowitsch und Alexandrow hin und her. Schließlich sagte er:
"Wirklich, Professor, das war nicht sehr nett." Schostakowitsch hatte
sein Ziel erreicht: Der Angegriffene wurde weder entlassen noch
verhaftet...Nachdem die Musiker den Raum verlassen hatten, sagte Stalin zu
Molotiw: "Dieser Schostakowisch scheint ein anständiger Mensch zu
sein."
So weit die Episode. Das Buch ist ein eindrucksvolles Dokument sowjetischer
Kultur- und Musikgeschichte. Das Drama um das Verbot von Schostakowtischs
berühmter Oper: "Lady Macbeth von Mzensk, 1934 in Leningrad aufgeführt,
durch Stalin 1936, welches auch in der Musik eine eisigere Kulturpolitik
ankündigte (in Leningrad war Stalins Rivale Kirow Parteichef, der - vermutlich
auf dessen Geheiß - im Dezember 1934 getötet wurde, womit die Stalinschen
Säuberungen begannen) wird ausführlich dokumentiert, aber auch das Leiden des
Volkes und der Künstler selber. Der Leser erfährt jedoch auch viel über den
Charakter Stalins, der es nicht wagte, bestimmte Künstler, etwa Maria Judina,
anzurühren, weil er sie als Gottesnarren empfand. Gottesnarren und Zaren waren
in der russischen Geschichte unauflösbar miteinander verbunden. "Als
ehemaliger Seminarist kannte Stalin die Tradition, und als jemand, der sich in
der historischen Erbfolge der russischen Zaren sah, spürte er diese Verbindung
deutlich." So verhinderte Stalin aus diesem Grunde die Verhaftung
Pasternaks mit den Worten: "Rührt diesen Wolkengucker nicht an." Sie
zeigt,wie der Große Terror auch von den Launen des Diktators abhängig war,
dessen Tod als Erlösung betrachtet werden konnte (am selben Tag wie Stalin
starb im übrigen ein anderer großer Komponist Rußlands, Prokowjew. Auch
dessen Beziehung zu Stalin und Schostakowtisch wird in dem Buch hervorragend
herausgearbeitet.)
Als Fazit kann man wirklich sagen, dass es in der Tat - wie es auf dem
Buchrücken heißt - kaum je in der Kulturgeschichte ein so schicksalhaftes
Verhältnis zwischen Potetnat und Künstler gegeben hat wie dasjenige von Stalin
und Schostakowitsch. Wolkow versteht es in der Tat meisterhaft, diese Beziehung
darzustellen und "sie als Lehrstück von Macht und Kunst vor dem
Hintergrund der von Repression und Aufbegehren geprägten russischen
Kulturgeschichte zu erzählen."
Fazit
Sicherlich ist dieses Buch - wie viele Rezensenten zu recht festgestellt haben -
eines der beeindruckendsten Bücher der letzten Jahre. Mich wird es nicht mehr
"loslassen."
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 20. März 2005 2005-03-20 12:12:18