Für seine journalistische Arbeit wurde Erwin Koch (Die Zeit, FAZ, Der Spiegel,
u.a.) mehrfach ausgezeichnet. Warum, wird jedem Leser des Buches "Wir
weinen nicht" sofort klar. Dort werden fünfzehn seiner Reportagen
zusammengefasst, die zwischen 1996 und 2002 in verschiedenen Publikationen
erschienen sind. Mit bewunderswertem Einfühlungsvermögen gelingt es dem
schweizerischen Autor, seine Porträts meist unbekannter Persönlichkeiten mit
außergewöhnlichen Lebensgeschichten in packende Einblicke ins Seelenleben zu
verwandeln, die niemanden kalt lassen. "Wir weinen nicht" sagt seine
Interviewpartnerin Dolores L. in der ersten Geschichte, und mit "wir"
meint sie Doris, Simone, Edith, Nora, Xenia und Maria - all die weiteren
Personen, die zusammen mit ihr in ihrer Psyche leben. Dolores L. ist nämlich
das, was Psychologen eine Multiple Persönlichkeit nennen. Auch der Bericht
über Jesse Gelsinger, einen achtzehnjährigen Jungen, der mit einer unheilbaren
Erbkrankheit auf die Welt kommt und an der fahrlässigen Behandlung seiner
profitgierigen Ärzte stirbt, verursacht Gänsehaut. Khaled Abuzarifa, der an
einen Rollstuhl gefesselt am Polizeiknebel erstickt, als er aus der Schweiz nach
Kairo abgeschoben werden soll, Markus T., der sich scheinbar ohne Gegenwehr von
seiner Frau und ihrem Liebhaber töten lässt, oder Stepan Tichonowitsch
Kowaltschuk, der sich 57 Jahre lang auf dem Dachboden seines Elternhauses
versteckt, sind weitere Menschen, deren tragische Geschichte der Journalist
analytisch beleuchtet, ohne sie zum sensationslüsternen Spektakel zu machen.
Andere Porträts sind vielleicht etwas weniger spektakulär, jedoch kaum weniger
berührend. Unter die Haut geht jedes einzelne von ihnen, und manche dieser
irrwitzigen Geschichten vermögen nachhaltiger zu schockieren als ein blutiger
Horrorfilm. Selbst hartgesottene Zeitgenossen seien gewarnt: dieses Buch ist nur
häppchenweise zu geniessen!
Fazit
Unglaublich fesselnde Geschichten, zu spannenden Reportagen gemacht. Für jeden,
der gerne hinter die Fassaden der Menschen schaut, wärmstens zu empfehlen.
Vorgeschlagen von Annette Rieck
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veröffentlicht am 15. März 2005 2005-03-15 07:18:46