Walter Kempowski hat mit dem vorliegenden Abschluss seines auf 10 Bände
angelegten Projektes ein Meisterwerk geschaffen. Kempowski legt hier ein
"kollektives Tagebuch" des Kriegsendes vor. Aus zahlreichen Quellen,
Erinnerungen, Tagebüchern wird hier das Kriegsende aus unterschiedlichster
Sicht dargelegt. Ansichten der politischen Führungen insbesondere im
Führerbunker werden ebenso dargelstellt wie die Aufzeichnungen der zahlreichen
namenlosen Leidenden und Opfer des Krieges: der Frontsoldaten, der
Zivilbevölkerung, die - wie Marcuse es ausdrückt - sich "belogen und
betrogen" fühlte (S. 425). Der lange geführte Streit, ob das Ende des
Krieges als Befreiung oder Niederlage aufgefasst wurde, ist akademisch. Die
vorliegenden Auszüge zeigen ganz deutlich: der Krieg wurde sowohl als Befreiung
als auch als Niederlage aufgefasst - je nach Standpunkt des jeweiligen
Betrachters. Die "historische Wahrheit" gibt es nicht - die
Wahnvorstellungen Hitlers - mehrfach wird aus seinem "politischen
Testament" zitiert - finden sich ebenso wie realitätsgetreue Schilderungen
des Kriegsalltags. Viele konnten die Niederlage und den Verlust ihrer
Wertvorstellungen nicht ertragen. So findet sich neben den Aufzeichnungen auch
eine Aufstellung der Todesursachen auf einem Friedhof, die zeigt, wie viele
Leute durch Freitod das Ende des furchtbaren Elends herbeisehnten. Am 30. April
- dem Todestag Hitlers - findet sich lapidar folgende Feststellung: "Am 30.
April starb ein Hausbewohner. Ein alter Herr. Er wurde in einen Teppich
gewickelt, die Pflastersteine auf dem Hof gehoben, eine Kuhle geschaufelt und
hinein mit dem armen Kerl. Er hatte es überstanden." (S. 299).
Das Tagebuch hat mich sehr an den Film: "Der Untergang" erinnert.
Dieser wertet ähnliche Quellen aus (u.a. die Erinnerungen der
Hitler-Sekretärin Traudl Junge). Wie ein szenischer Film laufen die sich
überschlagenden Ereignisse ab. Dabei konzentriert sich diese 450-seitige
Dokumentation lediglich auf vier Kriegstage: den 20. April (Hitlers Geburtstag,
der zu widersprüchlichen Betrachtungen anregt: Durchhalteparolen in der
Bevölkerung sowie in der nationalsozialistischen Führung finden sich in den
fragmentarischen Darstellungen ebenso neben Eintragungen, etwa von Christian
Graf von Krockow, die den Hass auf den "Verführer" Hitler deutlich
anzeigen), den 25. April und den 30. April sowie die beiden Tage des
Kriegsendes, 8./9. Mai.
Fazit
Ein beeindruckendes Buch, sicherlich - wie zahlreiche Rezensionen schreiben -
das "literarische Ereignis" dieses Jahres. Ähnlich wie die
Tagebücher von Victor Klemperer, Mikhail Sebastian und zahlreichen weiteren
Publikationen dieser Art machen sie Geschichte "lebendig". Das Buch
wird mich nicht mehr loslassen. Es ist ein beeindruckendes Zeitdokument.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 05. März 2005 2005-03-05 13:43:01